Erinnerungsort München:Spuren der Zeitschichten

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Ein Ausschnitt aus dem Vortrag zur Eröffnung des Jüdischen Museums in München.

Dan Diner

Die Zeit, für die ,,München'' als jüdischer Erinnerungsort steht, sind die wenigen Jahre, die direkt auf das Ende des Krieges folgen. Die Jahre 1946, 1947, 1948 symbolisieren eine punktuelle Kontraktion eines vormals geographisch, kulturell und politisch weit ausladenden Erfahrungs- und Gedächtnisraumes.

(Foto: Foto: ddp)

An diesem Ort, in München, hält die Geschichte der Juden in der Zeit danach für einen historischen Augenblick inne - unmittelbar nach jenem damals noch namenlosen Ereignis. Und es war dieser Augenblick, der sich einschrieb in die Personalien fast eines jeden in jenen Jahren geborenen Juden. Ein Ort des Übergangs also, um ein ,,München'' im übertragenen, im metaphorischen Sinne handelte es sich allemal.

Von München aus wurden die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre Geborenen von den Zeitläuften überall hin verbracht - nach Israel, in die Vereinigten Staaten oder wohin auch immer. In diese Richtungen verliefen sich die Spuren der so genannten Displaced Persons.

In München waren sie im Wortsinne de-plaziert gewesen, gleichsam entortet. Wo immer ihre Ursprünge sich auch befunden haben mochten - an diesem Zwischenort vereinte sie eine ihnen gemeinsame Passagenzeit. Ihr bürokratisches Emblem findet im Geburtseintrag ,,München'' weltweit Verbreitung.

Das ,,München'' der jüdischen Erinnerung post 1945 figuriert als Zeit. Als eine Zeit des Übergangs zwischen den Welten; genaugenommen zwischen zwei Phasen des Danach - der Phase nach dem Ende des Schreckens und der Phase des auf ihn folgenden Provisoriums.

Dazwischen stauen sich die Spuren ganzer Zeitschichten und der ihnen affinen historischen Gedächtnisräume. Und sie stauen sich vor allem in den aller Insignien deutscher Souveränität enthobenen Gebieten der amerikanischen Besatzungszone in Bayern und Österreich. Einer Endmoräne gleich lagerten sich dort osteuropäische jüdische Zeiterfahrungen ab.

Es handelte sich wesentlich um die Erlebniswelten von Juden, die dem geographisch-kulturellen Grenzsaum zwischen den historischen Gebieten Polens und Russlands entstammten - dem Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.

Sie waren von den im September 1939 nach Ostpolen eindringenden Sowjets weiter nach Osten, ins Landesinnere des Imperiums deportiert worden - oder wurden 1941 angesichts des deutschen Vormarsches in die Weiten Eurasiens evakuiert.

Oder es handelte sich um im sowjetischen Gewahrsam sich befindende polnisch-jüdische Kriegsgefangene, denen im Gefolge des zwischen Stalin und dem polnischen Exilpremier Wladislaw Sikorski geschlossenen Abkommens Ende Juli jenen Jahres sich die Tore des Gulags öffneten, die aber von den Rekrutierungsstellen der Juden wenig gewogenen polnischen Anders-Armee abgewiesen worden waren.

So trostlos die Lebensumstände der vornehmlich in Innerasien sich aufhaltenden Juden aus dem ostpolnischen Grenzland und benachbarten Gebieten unter dem Sowjetregime auch gewesen sein mochten - sie waren dem ihnen von deutscher Hand zugedachten Schicksal entronnen.

Diese Juden sollten nach dem Krieg neben den Überlebenden der Lager, der Zwangsarbeit und der Todesmärsche sowie den wenigen Versteckten und Verborgenen, das Gros der jüdischen Displaced Persons in den süddeutschen Lagern ausmachen.

In der Wanderung der wenigen Hunderttausende von Ost nach West begegneten die später in Bayern als Displaced Persons gestrandeten Juden Ostmitteleuropas aufs Neue der Geschichtserfahrung der Zwischenkriegszeit, ihrem eigentlichen Arsenal der Erinnerung. Als sie ihre Herkunftsorte in Polen und in den angrenzenden Gebieten erreicht hatten, fanden sie ihre Häuser von Einheimischen besetzt, ihre zurückgelassene Habe geplündert.

Das Schuldempfinden der Räuber und Hehler jüdischen Eigentums entlud sich in blutigen Pogromen gegen die unerwünschten Rückkehrer. Viele Hunderte kamen zu Tode. Die Explosion von Judenhass nach der Vernichtung der europäischen Juden trieb die zurückkehrenden Juden aus. In Panik flohen sie nach Westen, in Richtung der amerikanischen Besatzungszone auf deutschem Boden - nach München.

Vom Zwischenort der Zwischenzeit, von ,,München'' aus drängte es sie weiter. Amerika, das Land der Zukunft und der ersten Wahl eines jeden Auswanderers, war für Emigranten von den zwanziger Jahren an im Wesentlichen verschlossen. Das sollte sich erst nach dem im Juni 1948 vom Kongress beschlossenen Displaced Persons Act ändern. Zuvor hatte sich der Auswanderungsdruck der Hunderttausende ausschließlich auf Palästina gerichtet - oder war dorthin gelenkt worden.

Der spätere Begründer Israels, Ben Gurion, war eigens nach München in der Absicht gereist, die jüdische Flüchtlingsfrage in Europa mit dem zionistischen Anliegen eines hebräischen Territorialstaates in Palästina zu verknüpfen. Es ist keineswegs übertrieben, in den DPs den unmittelbaren politischen Hebel zur Staatsgründung Israels zu erkennen.

So gesehen stand die Wiege des im Mittleren Osten geborenen jüdischen Staates in gewissem Sinne eigentlich in Bayern. Dass diese Latenz Wirklichkeit werden konnte, bedurfte es des Drucks der Vereinigten Staaten auf die durch den Krieg geschwächte Mandatsmacht Großbritannien.

Die amerikanische Innen- und Immigrationspolitik verschränkte sich mit dem Wetterleuchten des sich anbahnenden Kalten Krieges. Es galt Deutschland, zumindest im Rahmen seiner westlichen Besatzungszonen, wiederherzustellen. Die Zeit der Displaced Persons neigte sich ihrem Ende zu.

Die in der aus den westlichen Besatzungszonen hervorgehenden Bundesrepublik noch anwesenden Juden waren zu einer verschwindenden Zahl zusammengeschmolzen. Damit verlor auch München seine zeitweilige Bedeutung als jüdisches Zentrum der Zwischenzeit.

Im kümmerlichen jüdischen Leben der jungen Bundesrepublik liefen München andere Städte den Rang ab. Frankfurt und Düsseldorf standen am jeweiligen Ende jener später so genannten Rheinschiene - der Lebensader des Weststaates.

Die konzentrierte Präsenz Amerikas in Frankfurt und Umgebung übte auf die wenigen verbliebenen jüdischen DPs eine schier magische Anziehungskraft aus. Bei diesen Menschen schien es sich um die Migranten unter den Migranten zu handeln - dynamisch, durchsetzungsfähig, ganz auf sich gestellt. Eine gleichsam habituelle Energie zeichnete die sich in Frankfurt zusammenfindenden Juden der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre aus.

Es schien einem Orakel gleich: Das, was sich in Frankfurt vorgebildet hatte, verlängerte sich in die Bundesrepublik hinein. So war es kein Zufall, dass auch die Musealisierung der Geschichte der Juden in Deutschland, genauer: in der alten Bundesrepublik, von Frankfurt am Main aus ihren Ausgang nahm. Dort eröffnete auch das erste jüdische Museum in einer deutschen Großstadt.

Die Musealisierung der Geschichte der Juden ist ein zwiespältiges Unterfangen. Der Zwiespalt wird allein schon daran sichtbar, dass es weniger jüdische Einrichtungen sind, die als Träger der Musealisierung auftreten. Es sind eher die Kommunen, die mit solchen Unternehmungen in die Öffentlichkeit treten.

Dass Juden und jüdische Einrichtungen solche Vorhaben begrüßen und unterstützen, liegt in der Natur der Sache. Dennoch stellen sich bei ihnen Bedenken ein. Schließlich waren die Nazis bestrebt gewesen, nach dem von ihnen betriebenen endgültigen Verschwinden der Juden deren kulturelle Hinterlassenschaften, Trophäen gleich, als Artefakte auszustellen.

Die gegenwärtige Tendenz zur Musealisierung von Kultur und Geschichte der Juden steht nicht in dieser Tradition. Eher begründet sie ihr Gegenteil. Das Museum ist kein Sarkophag, vielmehr ein Ort der Verlebendigung von Vergangenem. Dass die Musealisierung der Geschichte der Juden in Deutschland indes nach einem fast vollständig realisierten ultimativen Genozid erfolgt, mag jene Ambiguität erklären helfen, die solche Projekte begleitet.

Nach der Zeitenwende der Vereinigung zog Berlin das Zepter von Musealisierung und Kulturalisierung an sich. Das Jüdische Museum zu Berlin ist ein Ort der Kommunikation mit weiter, internationaler Ausstrahlung. Ein regelrechter Erinnerungsort.

Nach der historischen Frankfurter Erstgründung und dem späteren Berliner Hauptstadterfolg nun die Eröffnung des Jüdischen Museums in München. Jüngst war gleich nebenan, am selben Platze, die neue Synagoge geweiht worden.

Die räumlichen und zeitlichen Nähen, in denen diese Einrichtungen zueinander stehen, lassen sie als Zwillingspaar erscheinen. Die eine ist sakral, die andere profan. Die Aura des Sakralen, die Museumsbesucher angesichts originärer Exponate aus vergangenen Zeiten ohnehin befällt, findet sich durch die räumliche Nähe des Gotteshauses verstärkt.

Umgekehrt wird auch das Profane auf das Sakrale einwirken. Auf alle Fälle wird die architektonisch angelegte Spannung von Weltlichem und Heiligem das besondere Merkmal dieses Areals sein. Angesichts der Bedeutung Münchens für die Juden unmittelbar nach der Katastrophe scheint sich ein Kreis zu schließen. Mit dem Museum setzt das jüdische München Patina an.

Das jüdische München hat sein vormaliges Nischendasein längst überwunden. Dazu haben einige mehr als andere beigetragen. Erwähnen möchte ich hier die pionierhafte Leistung der Literaturhandlung. Mit geradezu partisanischer Energie und Ausdauer wurde nicht nur eine kulturelle jüdische Leere am Ort geschlossen.

Weit über München, über Deutschland hinaus ist ihre intellektuelle Strahlkraft zu verspüren - in Europa, in Israel, in den Vereinigten Staaten und anderswo. Später wurde ein Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität eingerichtet - ein Leuchtturm jüdischen Wissens und jüdischer Gelehrsamkeit.

Verstärkt finden sich die akademischen, geistigen und intellektuellen jüdischen Einrichtungen durch ein reichhaltiges Umfeld von Instituten und Institutionen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Charakters - die Stiftungen nicht zu vergessen. Deren Synergien werden ihren Weg in das jüdische Museum finden. Seine Aufgabe ist ihm vorgezeichnet. Zu einer solchen Zukunft gilt es ihm zu gratulieren.

Der Autor ist Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor für Geschichte an der Hebrew University Jerusalem.

© SZ vom 23.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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