Erfahrungsbericht eines Orthopäden:"Fleiß wird nicht belohnt"

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Die Geschichte eines Münchner Orthopäden, der zehn Monate nach Praxiseröffnung fast vor dem Aus steht - weil er zu viele Patienten behandelt hat.

Sibylle Steinkohl

Drei Buchstaben bringen den Münchner Orthopäden auf die Palme: EBM. So heißt das neue Abrechnungssystem, der so genannte Einheitliche Bewertungsmaßstab, nach welchem die Leistungen der niedergelassenen Kassenärzte seit April vergangenen Jahres abgerechnet werden. Die Patienten, die an diesem Montagmittag nach und nach das Wartezimmer füllen, ahnen nicht, womit sich ihr Doktor am Schreibtisch gerade herumschlägt.

(Foto: Foto: ddp)

Dr. Uwe Voigt (der richtige Name ist der Redaktion bekannt) blättert in seinem umfangreichen Schriftverkehr und zeigt auf Berechnungen, die meistens mit einem Minusbetrag enden. Dann nimmt er den neuesten Brief in die Hand: "Innerhalb von zehn Tagen soll ich nun 44000 Euro an die Kassenärztliche Vereinigung zurückzahlen", sagt der Arzt und schwankt zwischen Niedergeschlagenheit und Wut: "Das heißt, dass ich pleite bin."

Dabei hat vor einem Jahr alles so gut begonnen. Der junge Facharzt für Orthopädie konnte eine gut gehende Praxis im Osten Münchens übernehmen. "Mein Vorgänger hatte eine überdurchschnittlich hohe Patientenzahl", berichtet er, deshalb habe er auch einen stattlichen Preis bezahlen müssen, eine halbe Million Euro. Mit günstigen Handwerkern aus dem Bekanntenkreis und eigenem Engagement hat er seinen künftigen Arbeitsplatz renoviert und verschönert und medizinische Geräte geleast. Just am 1. April 2005, als Uwe Voigt eröffnete, trat das neue Abrechnungssystem in Kraft.

Die Patienten mit kaputten Knien und lädierten Wirbelsäulen, mit schmerzenden Hüften und entzündeten Gelenken schenkten auch dem Nachfolger ihres alten Orthopäden das Vertrauen. Doch Uwe Voigt blieb wenig Gelegenheit, sich über den geglückten Einstand zu freuen: "Zuerst wurden mir für das Quartal von April bis Juni 140 Patienten gestrichen, weil ich die zulässige Fallzahl überschritten habe", sagt er. Inzwischen seien die nicht vergüteten Behandlungen von Kassenpatienten auf über 200 angewachsen.

Wenn Voigt pro Schein 40 Euro veranschlagt, fehlen ihm also schon mal 8000 Euro. Dazu addierten sich weitere ärztliche Leistungen wie Spritzen, die nicht honoriert wurden. "Fleiß wird nicht belohnt", klagt der Mediziner, denn der EBM limitiere nicht nur die Patientenzahl, sondern auch die Zeit.

Die erste Ordination ist jetzt beispielsweise mit zehn Minuten angesetzt, ein chirotherapeutischer Eingriff an der Wirbelsäule mit sieben Minuten, ein fixierender Verband mit vier Minuten. "Das Einrenken der Wirbelsäule geschieht in erfahrenen Händen viel schneller", moniert Voigt, "und den Tape-Verband macht die Helferin, da überprüfe ich nur, ob er richtig sitzt." An seinem patientenstärksten Tag habe er gemeinsam mit seinem hochmotivierten Personal 130 Kranke versorgt, "ohne dass sie sich abgefertigt fühlten".

In Euro und Cent zahlt sich das nicht aus: 780 Stunden darf der Orthopäde pro Quartal arbeiten. Das klinge viel, sagt der Arzt, doch weil man sich an den festgelegten Minutenwerten orientieren müsse, sei das Zeitkontingent bald aufgezehrt. So habe er von Oktober bis Dezember 60 Stunden umsonst geschuftet: "Zeit und Leistung, beides ist mir zusammengestrichen worden."

Spätestens an dieser Stelle kommt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) ins Spiel, die mit den gesetzlichen Krankenkassen die Vergütung der ambulanten Leistungen aushandelt und den niedergelassenen Ärzten die Honorare zuteilt. Voigt erzählt von einem höchst komplizierten System an Abschlagszahlungen und Rückforderungen, die er in dem Dreivierteljahr seiner Kassenarzttätigkeit bekommen hat. Fehler hat er inzwischen entdeckt.

So seien ihm sämtliche Röntgenleistungen nicht erstattet worden, außerdem sei der Paragraph nicht berücksichtigt, nach dem bei einem Praxis-Neuling die Scheinzahl des Vorgängers zugrunde gelegt werden müsse. "Mir steht also noch Geld zu", ärgert sich Voigt, "doch bei meinen inzwischen täglichen Nachfragen werde ich von unterschiedlichen Sachbearbeitern in der KV vertröstet." Für ihn sei es aber zu spät, wenn erst in einem halben Jahr Rückforderung und unbezahlte Leistungen gegengerechnet würden. "Dann hat mich die KV in den Ruin getrieben", sagt er.

Axel Munte, der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, bemüht sich inzwischen, erboste Mediziner zu besänftigen. "Fast täglich bespreche ich mit einzelnen Ärzte ihre spezifischen Probleme", sagt er. Manche Fachgruppen profitierten zwar von der EBM-Abrechnung, die meisten jedoch etwa die Orthopäden, Nerven- und Lungenärzte müssten Honoroareinbußen zwischen zehn und 20 Prozent hinnehmen.

Den Schwarzen Peter mag sich der KV-Vorstand freilich nicht zuschieben lassen. "Aufgrund der staatlichen Budgetvorgaben fehlen bayernweit im Quartal mehr als 300 Millionen Euro, wenn der kalkulierte Punktwert von 5,11 Cent an die Ärzte bezahlt würde" kritisiert er. Das bedeute, dass ein Drittel der ambulanten Leistungen nicht vergütet werden könnten.

"Der Kassenpatient ist in unserem System nichts mehr wert", bedauert Voigt. Im letzten Quartal von 2005 habe er die Finanzlöcher mit Privatpatienten zu stopfen versucht, außerdem habe er sein Konto belastet. "Nun muss ich die nächste Helferin entlassen." Über dem Praxiseingang hängt das Schwarzweiß-Foto eines stolzen Adlers vor alpinem Bergpanorama. Fast könnte man auf die Idee kommen, es handle sich um den Pleitegeier.

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