Wohnung gesucht:"Mich will wegen Marvin niemand haben"

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"Das ist kein Wohnen", sagt Carola Mitschek. Überall stehen Hilfsgeräte, Spielsachen und Bücher von Marvin, der unbedingt ein eigenes Zimmer brauche. (Foto: Renate Schmidt)

Die Mutter eines schwerstbehinderten Achtjährigen sucht seit Jahren nach einer Bleibe - bezahlbar und barrierefrei.

Von Tahir Chaudhry, Erding

"Es gibt Menschen, denen es noch viel schlechter geht", dieser Gedanke hat Carola Mitschek, 40, bisher immer zum geduldigen Schweigen und Hinnehmen verleitet. Es war ihr unangenehm, über ihr Problem öffentlich zu klagen. Vor wenigen Wochen kam aber der Weckruf: Mit ihrem schwerstbehinderten achtjährigen Sohn stürzte sie im Treppenhaus. Beide blieben glücklicherweise unverletzt. Aber jetzt will sie nichts mehr riskieren und deshalb kämpft sie - um eine größere barrierefreie Wohnung. Ein sehr schwieriges Unterfangen, wie Mitschek erfahren hat. Sie sucht nach dieser Wohnung seit dem zweiten Lebensjahr ihres Sohnes, als die Ärzte feststellten, dass das Kind geistig und körperlich behindert ist. Fachleute bestätigen, dass bezahlbarer barrierefreier Wohnraum in Erding kaum zu haben ist.

Der Aufzug fährt nur bis zum zweiten Stock

Mitschek lebt mit ihrem Ehemann seit der Geburt ihres heute achtjährigen Sohnes in einer viel zu kleinen Dachgeschosswohnung am Gestütring in Erding. Die zwei Zimmer befinden sich im dritten Stockwerk, aber der Aufzug fährt lediglich bis zum zweiten. Ihren Sohn auf dem Rollstuhl, der immer schwerer wird, muss Mitschek daher den restlichen Weg in ihren Armen und hochtragen. Oben angekommen wird es dann sehr eng und ungastlich.

"Das ist kein Wohnen", meint Mitschek mit verzweifeltem Blick über den vollgestellten Flur, der gleichzeitig die Küche ist. Es ist eher ein Unterkommen. Wohin das Auge reicht, stehen Hilfsgeräte, Spielsachen und Bücher von Marvin, der "jetzt unbedingt ein eigenes Zimmer" braucht. Wenig Platz bleibt in der Mansardenwohnung für andere Möbel. Auch der Weg ins Badezimmer ist voller Hürden.

Ein vertrautes Umfeld ist lebensnotwendig

"Warum gerade eine Wohnung in Erding?", wird sie häufig gefragt. Marvin hat einen Platz in der St. Nikolaus-Schule Erding, wo er therapiert wird. Die Schule befinde sich fußläufig von der Wohnung, so kann die Mutter zu ihm, wenn es ihm schlecht geht. Zudem sei seine Kinderärztin in Erding, die ihn mittlerweile sehr gut kenne. "Marvin ist auch in ganz Erding bekannt und beliebt in vielen Geschäften in der Nachbarschaft", erzählt Mitschek. Ein vertrautes Umfeld ist für ihren Sohn so gut wie lebensnotwendig.

"Mich will wegen Marvin niemand haben", glaubt Mitschek. Allerdings ist nicht nur die Behinderung ihres Sohnes wegen der schwierigen Kündbarkeit den Vermietern ein Dorn im Auge, sondern auch die berufliche Selbstständigkeit ihres Mannes. Als Kurierfahrer müsse für seine Aufträge weite Strecken zurücklegen und könne nur am Wochenende Zuhause sein.

Die körperliche und nervliche Belastung nagt an Mitschek. Aufgeben will sie aber noch lange nicht, sondern so lange kämpfen, bis man ihren Hilfeschrei hört. "Es geht nicht nur um mich, sondern um das Lebensrecht von Marvin. Er ist behindert und kann nichts dafür." Beim Sozialverband VdK, Caritasverband und im Hospiz war sie deshalb gewesen. Dort habe man zwar ein offenes Ohr für ihr Schicksal gehabt, aber stets darauf verwiesen, dass ihnen die Hände gebunden seien. Allein das Sozialpsychiatrische Zentrum kbo habe "wenigstens versucht, etwas zu tun". Man setzte ein Schreiben zur Vorlage beim Rathaus auf, das darlegte, dass es sich im Fall Mitschek um die höchste "Dringlichkeitsstufe" handele.

"Es gibt eine lange Warteliste", sagt die Stadt

Als Mitschek sich an das Rathaus wandte, habe man ihr jedoch schnell klargemacht, dass es auf absehbarer Zeit "definitiv keine Wohnung" für sie gebe. Auf Nachfrage sagte der Sprecher der Stadt Erding, Christian Wanninger, dass der Wohnungsmarkt in Erding generell schwierig sei. "Die Zahl der stadteigenen barrierefreien Wohnungen ist begrenzt und somit natürlich heiß begehrt. Es gibt eine lange Warteliste." Mitschek sah schließlich Oberbürgermeister Gotz (CSU) als letzte Hoffnung und suchte sein Büro auf. Die Sekretärin habe sie mit der Erklärung abblitzen lassen, dass der Bürgermeister viele Termine habe und entscheiden müsse, was wichtig ist. "Ich bin kein zorniger Mensch, aber seitdem habe ich so einen Hals", gesteht Mitschek. Das Büro von Gotz teilte unterdessen mit, dass man die Lage der verzweifelten Frau sehr wohl verstehen könne, und versicherte, dass das Möglichste getan werde, um der angespannten Situation zu begegnen.

Der Geschäftsleiter der Stadt Erding, Reinhard Böhm, verwies ergänzend auf geplante Maßnahmen. Die Stadt plane die Einführung eines städtebaulichen Modells "sozialgerechte Bodennutzung", mit dem bei der Schaffung neuen Baurechts auch Sozialwohnungen entstehen sollen. "Voraussichtlich im Frühjahr" begännen die Baumaßnahmen für weitere 15 Wohnungen. Ob dabei auch barrierefreier Wohnraum entsteht, dazu sagte Böhm nichts.

Viele geben ihr Kind in ein Heim.

Die Vorsitzende der Baugenossenschaft Erding, Sonja Kienle, spricht angesichts des Falls Mitschek von einem Wohnungsangebot, das "noch lange nicht ausreicht". Die Wohnungen in Erding seien veraltet, und mehr Barrierefreiheit bedeute Neubauprojekte. Doch dafür fehle das Geld. "Der teure Baugrund ist ein Problem. Gebaut wird nur, wenn es sich lohnt", so Kienle. Ähnlich sieht es Eva Kolenda, die Vorsitzende des Mietervereins Erding. Ausreichend Wohnraum müsse es nach ihr jedoch geben, da die Stadt sich dazu verpflichtet habe, barrierefreie und sozialverträgliche Wohnungen zu schaffen.

Viele Klienten mit diesem Problem kenne sie nicht, das sagt Tanja Sachs von der Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung des Caritasverband in Erding. "Warum bringst du dein Kind nicht in eine Wohnheim?", habe man auch Mitschek schon einige Male gefragt. Für nichts in der Welt würde sie ihn hergeben, sagt die Mutter. Marvin sei ein Wunschkind gewesen. Schließlich hätte das Paar zehn Jahre lang versucht, schwanger zu werden. "Ich liebe meinen Sohn. Neun Monate habe ich ihm im Bauch gehabt."

Sie ist stolz auf ihren Sohn

"Erding ist doch keine arme Stadt", sagt sie und findet, dass die Stadt zu wenig für die Hilfsbedürftigen tue. Mitschek hat das Gefühl, man verstehe ihre Not nicht. Der Missstand beziehe sich nicht nur auf den Wohnungsmarkt. Ihr gehe es auch um den allgemeinen Umgang mit behinderten Menschen. "Wenn ich mit Marvin durch die Stadt laufe, wird er angeschaut, als wäre er eine Attraktion, und im Stadtpark gehen die Leute direkt auf Abstand", stellt sie fest. Auch an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft mangele es bei manchen Erdingern. Es komme öfter vor, dass wenn sie Marvin in den Aufzug tragen wolle, die Leute "schnell in den Aufzug rennen und mir panisch die Tür vor der Nase zuknallen".

Marvin ist zu 100 Prozent sprachlich, motorisch und kognitiv beeinträchtigt. Er ist die meiste Zeit ruhig, wirkt lebensfroh, strahlt eigentlich immer, außer er möchte auf seine Schmerzen aufmerksam machen. "Er ist einfach goldig", das wisse jeder, der ihn kennenlerne, sagt Mitschek. Sie ist stolz auf ihren Sohn, weil er sein Lächeln beibehalten habe, "obwohl er so viel durchgemacht hat".

© SZ vom 13.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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