SZ-Adventskalender :Ein bisschen zu viel und doch zu wenig

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Das Einkommen vieler geringverdienender Eltern liegt nur wenige Euro über der Höchstgrenze für Sozialhilfe. Das ist für die Familien eine enorme Belastung und für ihre Kinder ein großer Nachteil

Von Julian Zieglmaier, Erding

An einer Grenze zu leben, hat meistens schwerwiegende Nachteile. Da muss man nur Ostdeutsche fragen, die unweit der innerdeutschen Grenze wohnten. Der nächste Ort, an dem es all das gibt, was einem fehlt, ist so nah - und doch nicht erreichbar. Es gibt aber auch Grenzen, die nicht physisch existieren, sondern nur im Kopf beziehungsweise auf dem Papier. Sie haben oft eine genauso schwierige Lebenssituation zur Folge, wie echte reale Grenzen. Zum Beispiel staatlich festgelegte Einkommens- und Vermögensgrenzen, die unterschritten werden müssen, um Sozialleistungen und staatliche Hilfen zu erhalten. Die wären ja doch bitter nötig, egal ob man eigentlich einen Euro mehr oder weniger verdient. Auch im Landkreis Erding gibt es Fälle, in denen Familien um ihre Existenz kämpfen und keine staatliche Unterstützung bekommen, weil sie einige Euro zu viel verdienen.

Es ist eine einfache Rechnung, die zeigt wie knapp der finanzielle Spielraum für viele Familien ist. "Eine typische Familie, die wir betreuen, hat zwei Kinder. Ein Kind ist zum Beispiel ein Jahr alt und geht noch nicht in den Kindergarten, das andere Kind ist gerade in die Schule gekommen, wäre also ungefähr sieben Jahre alt", sagt Brigitte Fischer von der Sozialen Beratungsstelle der Caritas Erding. "Lebt eine Familie mit einem siebenjährigen und einem einjährigen Kind, das von der Mutter zu Hause betreut wird, in einer ohnehin sehr knapp bemessenen Zweizimmerwohnung für 1000 Euro Warmmiete und verdient der Ehemann als Lagerist 2300 Euro netto im Monat, dann verpasst die Familie jede staatliche Hilfe um 74 Euro." Diese Auskunft gibt das Jobcenter Aruso. Das bedeutet, dass die Vier keine wirtschaftliche Jugendhilfe und keine Sozialleistungen erhalten und weder Gebühren für Kindertagesstätten noch für den Hort übernommen werden.

Wie knapp das Geld bemessen ist, wird klar, wenn man einen Blick auf die finanzielle Bilanz einer betroffenen Familie zum Monatsende wirft. Nach Abzug der Miete bleiben noch 1300 Euro Gehalt. Viele brauchen gerade im Landkreis Erding ein Auto, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Das kostet, inklusive Treibstoff, Versicherung, Raten für den Kauf oder Leasinggebühren und planmäßiger Reparaturen, schnell 450 Euro im Monat. Eine vierköpfige Familie mit einem Kind, das dem Säuglingsalter noch kaum entwachsen ist, benötigt monatlich ungefähr 550 Euro für Lebensmittel und Drogerieartikel. Kleidung, Schulsachen, Spielzeug, Telefon, Internet, Tickets für öffentlichen Nahverkehr und Versicherungen schlagen locker mit 200 Euro zu Buche. Es bleiben also 100 Euro, die für sonstige Ausgaben verwendet werden können. Das ist nicht viel.

"Wenn das Auto oder die Waschmaschine kaputt geht, dann kostet es gleich mehrere Hundert Euro. Das belastet den Geldbeutel natürlich enorm und führt oft zu Schulden", so Fischer. Auch die Ausgaben für Hort, Kinderkrippe und Kindergarten sind mit diesem Geld nicht oder nur schwer zu finanzieren. Wenn die Kinder betreut sind, können zwar beide Elternteile arbeiten, aber ein flexibler Halbtagsjob für ein Elternteil, der genug einbringt, um die Kosten für Betreuung und den Aufwand zu rechtfertigen, ist nicht so einfach zu finden. "Bei uns kostet die Betreuung im Hort zwischen 181 Euro pro Monat bei vier Stunden Betreuungszeit und 236 Euro pro Monat bei mehr als fünf Stunden Betreuungszeit am Tag", berichtet Claudia Zettel, die Leiterin der Caritas Kinderburg in Erding. Auch wer seine Kinder in den Kindergarten oder in die Kinderkrippe schickt, muss in Erding mit ähnlichen Gebühren rechnen. So kostet ein Kindergartenplatz für sechs Stunden inklusive Mittagessen knappe 200 Euro. Die Gebühren für eine fünfeinhalbstündige Betreuung der Kleinsten in einer der Erdinger Kinderkrippen der Arbeiterwohlfahrt betragen beispielsweise 220 Euro.

Also betragen Gesamtkosten für die Kinderbetreuung im Beispielfall mindestens 400 Euro. Bei Familien, die ein nur um 74 Euro geringeres Einkommen haben, werden diese Ausgaben vom Staat übernommen. Folglich stehen Menschen mit höherem Verdienst am Ende des Monats deutlich schlechter da als Menschen mit geringerem Verdienst. Hilfe können sie nur von nicht staatlichen Organisationen wie der Caritas bekommen.

"Vor allem Kinder aus nichtdeutschsprachigen Familien haben einen riesigen Nachteil, wenn sie nicht in den Hort oder Kindergarten gehen. Für den Erfolg in der Schule ist es einfach wichtig, dass sie sprachlich auf dem Niveau der anderen Kinder sind", beschreibt Fischer die Probleme von Familien, die aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert sind. Vor allem Familien aus Osteuropa seien oft unter den Betroffenen. Erschwerend komme hinzu, wenn Eltern oder andere Familienangehörige in der Heimat erkrankten. Dann würden die in Deutschland Arbeitenden oft noch 100 oder 200 Euro im Monat in die Heimat überweisen. Das reduziere den finanziellen Spielraum natürlich weiter. Große Sprünge sind so nicht möglich und auch Weihnachtsgeschenke, Christstollen und ein Christbaum stellen eine Herausforderung dar. Geschweige denn Urlaube, Sparen für das Alter oder dafür, dass der Nachwuchs später einmal auf die Universität gehen kann.

Viele Menschen, besonders in Oberbayern, leben knapp über der Grenze für staatliche Hilfe. Grund dafür sind vor allem hohe Mieten und Lebenshaltungskosten, die auch bei durchschnittlichen Gehältern zu schwierigen finanziellen Situationen führen. "Ich schätze, dass ein Drittel unserer Klienten gerade so viel verdient, dass sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben und trotzdem Hilfe bräuchten," so Brigitte Fischer. Sofortiger Bedarf bestehe bei mindestens zehn Familien. Aber jeder Euro helfe den Betroffenen.

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(Foto: Catherina Hess)

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© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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