Statistik im Visier:Die Mär vom Top-Landkreis

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"Erding ist der sicherste und der Landkreis mit der größten Lebensqualität in Deutschland" - Landrat Martin Bayerstorfer beruft sich dabei auf ein Ranking des Magazins Focus. Doch wenn man genauer hinsieht, dann liegt der Kreis bei allen Kriterien nur zwischen den Plätzen 41 und 136

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Der Landkreis Erding ist der sicherste Landkreis in Deutschland und zudem der Landkreis mit der größten Lebensqualität, sagte jüngst Landrat Martin Bayerstorfer beim Neujahrsempfang der CSU im Landkreis. Bayerstorfer bezog sich dabei auf einen Artikel im Magazin Focus Ende 2016. In dem "Erfolgs-Atlas" wurden alle 402 deutschen Kreise und kreisfreien Städte anhand von 19 Parametern verglichen. Heraus kam ein Ranking für die Bereiche "Wachstum und Jobs", "Firmengründungen", "Produktivität und Standortkosten", "Einkommen und Attraktivität" sowie "Sicherheit und Lebensqualität". Und tatsächlich: im letzteren Bereich kam Erding auf Platz 1 vor Landsberg am Lech und Freising. Sieht man sich allerdings das Zustandekommen des Rankings genauer an, kommt heraus, dass Erding in keinem einzigen Punkt "top" ist. Das beste Einzelergebnis ist Platz 41 beim Kriterium "Arbeitskräftepotenzial, Zehn- bis unter 25-Jährige je 100 Einwohner".

Focus-Redakteur Matthias Kowalski gibt zu, dass das Ranking nicht alle Faktoren erfasse, wie man vielleicht persönlich für sich "Lebensqualität" definiere. Dazu müsste man zudem repräsentative Umfragen durchführen. Und auch beim statistischen Datenmaterial habe man sich auf deutschlandweit identisch erhobene Statistiken beschränken müssen, da nicht überall die gleichen Daten erhoben würden. Die Redaktion habe sich deshalb auf sieben Kriterien geeinigt: auf die Zahl der erfassten Fälle von Straßenkriminalität und Wohnungseinbruchsdiebstählen je 100 000 Einwohner, das Arbeitskräftepotenzial, das in der Zahl der Zehn- bis unter 25-Jährigen je 100 Einwohner gemessen wurde, die Abweichung des Lohns für Frauen im Vergleich zum Durchschnitt für Männer in Prozent, die Quote der Empfänger von Grundsicherung für Menschen über 65 Jahren je Einwohner, die Zahl der Krankheitstage bei Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkasse und der Mittelwert der Steuereinnahmen - Grundsteuern, Gewerbesteuer abzüglich der Umlage, Gemeindeanteil an der Einkommensteuer und Umsatzsteuer - je Einwohner.

Auch wenn das Ranking etwas anderes vermittelt, ist der Landkreis Erding zum Beispiel bei den Wohnungseinbrüchen deutschlandweit nur auf Platz 80. (Foto: dpa)

Rein rechnerisch kommt Erding in der Quersumme aller Faktoren tatsächlich auf Platz 1 beim Ranking "Sicherheit und Lebensqualität". Doch bei der Betrachtung der einzelnen Kriterien sieht es anders aus. Am besten noch beim Punkt Arbeitskräftepotenzial: Platz 41 von 402. Rang 59 wird bei der Steuerkraft erreicht und 80 bei den Wohnungseinbruchsdiebstählen. Platz 84 ist es dann schon bei der Straßenkriminalität. Über 100 geht es beim Thema "Equal pay" bei Männern und Frauen (Platz 106) und beim Thema Altersarmut und Grundsicherungsbezieher ist es Platz 136 - im Jahr 2015. Nachdem laut Auskunft des Landratsamtes die Zahl der Grundsicherungsfälle in den vergangenen fünf Jahren von rund 350 auf 530 Fälle 2017 gestiegen ist, dürfte Erding noch weiter abgerutscht sein.

Eva Kolenda, die Vorsitzende des Mietervereins hält von diesen Rankings nichts. "Ja, es mag schön sein in Erding zu leben mit seinen bunten Häusern, aber das muss man sich leisten können. Von Lebensqualität kann man als Mieter nicht sprechen, wenn man ständig Angst hat, dass man sich die Wohnung nach der nächsten Mieterhöhung nicht mehr leisten kann." Die Lebensqualität mache mehr als nur Zahlen aus Statistiken aus. Sie spüre, dass der Unmut in der Bevölkerung über die Entwicklung wachse.

Auch Anton Altmann, der Leiter der Erdinger Polizeiinspektion, steht einer Aussage, dass Erding der sicherste Landkreis in Deutschland sei, skeptisch gegenüber. Dass man für das Ranking die Zahl der Wohnungseinbruchdiebstähle und die Fälle der Straßenkriminalität je 100 000 Einwohner nutze, ist für ihn zwar nachvollziehbar, sei aber nur ein Teil der Gesamtkriminalität. Die beiden Bereiche Einbrüche und Straßenkriminalität seien diejenigen, die den Bürger persönlich eher treffen, während Vermögens- und Fälschungsdelikte abstrakter seien. Von vielen Vorfällen erfahre er zudem gar nichts. Damit sei das Gefühl "sicher" zu sein subjektiv.

Und tatsächlich lag der Landkreis Erding nach dem "Erfolgs-Atlas" 2015 nur auf Rang 84 von 402. Bei den Wohnungseinbrüchen auf Platz 80. Im Jahr 2016 hat sich die Kriminalitätsbelastung im Bereich des Polizeipräsidiums Oberbayern Nord weiter verringert - als einziger Landkreis. Der "sicherste" Landkreis sei aber, so das Polizeipräsidium Oberbayern, der Landkreis Eichstätt.

Ein Blick auf Erding bei den restlichen Fokus-Rankings zeigt, dass der Landkreis nur bei Punkt "Sicherheit und Lebensqualität" Spitze abschneidet, ansonsten nicht mal in die Top 50 deutschlandweit kommt. Am besten sieht es laut Focus noch bei "Wachstum und Jobs" aus. Platz 67 von 402 - und dies obwohl der Landkreis seit Jahren eine der geringsten Arbeitlosenquote in Deutschland hat. Auf Platz 72 ist Erding jeweils bei "Produktivität und Standortkosten" und "Einkommen und Attraktivität". Sogar nur zu Platz 146 hat es bei den "Firmengründungen" gereicht. Insgesamt belegte der Landkreis Platz 24 deutschlandweit.

Auch Petra Bauernfeind, die Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe Erding, die die Tafel am Bahnhof betreibt, sieht die Realität, was die Lebensqualität in Erding betrifft ganz anders. "Es stimmt schon, dass man viel bei uns geboten bekommt, wenn ich zum Beispiel an die Bereiche Kultur oder Sport nur denke. Aber dafür müssen Sie die notwendige finanzielle Ausstattung haben. Und die haben immer mehr nicht mehr. Die Schere zwischen Habende und Nichthabende klafft immer weiter auseinander", sagt Bauernfeind. Extrem sei dies im Landkreis beim Faktor Wohnen. "Ich kenne Kunden von uns, die leben in Wohnungen, die kann man sich gar nicht vorstellen, aber mehr können sich die Menschen nicht leisten, sie sind froh, dass sie ein Kopf über den Dach haben." Von guter Lebensqualität zu sprechen, würde auch bei vielen Kindern und Jugendlichen fehl am Platz sein. "Wir haben Kunden, deren Kinder sind die dritte Generation bei uns. Meinen Sie, für die Schüler ist es schön, den Lehrer fragen zu müssen, ob sie das Papiergeld von fünf Euro im nächsten Monat zahlen können, weil diesen Monat einfach kein Geld mehr da ist?" Vor allem Kinder seien die Leidtragenden. Wer von einer guten Lebensqualität in Erding spreche, spreche nur über einen Teil der Gesellschaft, nämlich die, die gut verdienen, gut über die Runden kommen, sagt Petra Bauernfeind. Und zu denen würden auch immer mehr ältere Menschen, vor allem Frauen oder Alleinererziehende, nicht mehr gehören. "Dass wir in dem Punkt Grundsicherung bei über 65-Jährigen nur weiter hinten liegen, verwundert mich nicht, dazu reicht alleine das Stichwort Mieten", sagt die Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe. Und dabei würden in der Statistik nur die gemeldeten Fälle verzeichnet. "Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Viele nehmen diese Hilfe gar nicht in Anspruch, zum Teil, weil sie von einem Partner unterstützt werden oder weil sie ihren Stolz haben, und es im Leben auch immer ohne Hilfe geschafft haben." Schon der Gang zur Tafel für Lebensmittel erfordere Mut, sich die Not einzugestehen.

Fritz Steinberger, der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Erding, sieht ebenfalls die Schere immer weiter aufklaffen. Er schätzt den Anteil der Bürger, die im Landkreis von "Lebensqualität" wenig spüren auf rund 15 Prozent. "Der Landkreis ist top, was die Steuerkraft betrifft, womit die Kommunen viele Bedürfnisse oder Wünsche ihrer Bürger erfüllen können. Viele Bürgermeister sehen das starke Wachstum aber berechtigterweise inzwischen mit gemischten Gefühlen", sagt Steinberger. Die Negativseiten sehe man bei den Mieten aber auch anderen Lebenshaltungskosten. "Erding mag statistisch gesehen top sein, aber ist auch einer der teuersten Landkreise, und immer mehr können ihn sich nicht leisten." Die Betroffen würden ihre Lebensqualität wohl eher anders sehen. Ohne Gegensteuern von staatlicher Seite würden es immer mehr werden, die am sogenannten Wohlstand nicht teilhaben können. Auf der Ebene der Kommunen könnte man da leider eher weniger bewirken.

Besser als der Wohnungsmarkt, wird in Erding die Arbeitslosenquote bewertet. Allerdings bewertet Focus nur das sogenannte "Arbeitskräftepotenzial", also wie viele Zehn- bis 25-Jährige in Erding leben. (Foto: dpa)

Deutschlandweit am besten hat übrigens im Gesamtranking der Landkreis München abgeschnitten. Zwei Mal Platz 1, einmal der zweite Platz. Doch was die Sicherheit und Lebensqualität betrifft nur Platz 58.

© SZ vom 13.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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