Norbert Lammert in Erding:Lehrstunde in Rhetorik

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Gelassenheit im Ton, das wünscht sich der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (links), neben ihm Moderator Thorsten Otto. (Foto: OH)

Der frühere Bundestagspräsident blickt ernst und nachdenklich auf die Welt, seine Leichtigkeit fesselt jedoch die Zuhörer

Von Philipp Bovermann, Erding

Er hätte Bundespräsident werden können, die Größe dazu hätte er nach Ansicht vieler gehabt. Er hatte dann aber sogar die Größe, nicht Bundespräsident werden zu wollen. Stattdessen saß Norbert Lammert am Montagabend im Schrannensaal der Sparkasse Erding- Dorfen. Die hatte ihn zu ihrer Vortragsreihe "Von Mensch zu Mensch" eingeladen, als vorweihnachtliches Schmankerl für ihre Kunden. Die Liste der Vortragenden, die dafür schon nach Erding gekommen sind, kann sich sehen lassen: Otmar Hitzfeld, Claus Kleber oder Hans-Dietrich Genscher. Und nun der Mann, dem alles Schwere und Verbissene zutiefst fremd zu sein scheint. Von den süffisanten Bemerkungen, mit denen er als Bundestagspräsident von 2005 bis 2017 Abgeordnete, die sich nicht unter Kontrolle hatten, zur Ordnung rief, existieren Best-of-Sammlungen. Gregor Gysi meckerte einmal, immer wenn interessant gesprochen würde, bräche er ab. Lammert entgegnete ihm, er könne ja mit dem Interessanten anfangen, dann hätte er genügend Zeit.

Am Montag sprach er, nachdem er seinen "beachtlichen Beitrag zum Umsatz der Erdinger Brauerei" betont hatte, über "Macht und Ohnmacht in Zeiten der Globalisierung". Das immer höhere Tempo, mit der sich die Welt verändere, schrieb er der Digitalisierung zu. Das Internet sei eine einschneidendere Erfindung als die Dampfmaschine, die Elektrizität und das Auto. Denn etwas nie Dagewesenes sei passiert: "Informationen, die überhaupt vorhanden sind, sind prinzipiell an jedem Ort vorhanden." Früher sei das Tempo der Wirtschaft wesentlich von den Verzögerungen bei der Informationsvermittlung geprägt gewesen. Das sei passé und habe zu unumkehrbaren Veränderungen in der Beschaffenheit der Märkte geführt. Dass heute der Begriff der Realwirtschaft verwendet werde, um jenen Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit zu bezeichnen, in dem tatsächlich noch Güter und Dienstleistungen produziert werden, verdeutliche, wie weit diese Entwicklung fortgeschritten sei.

Globale Wirtschaftsströme könnten heute "per Mausklick" umgelenkt werden, sobald ein Staat den vermeintlich innerhalb seiner Grenzen liegenden Wirtschaftsraum politisch zu gestalten strebe. "Es gibt eigentlich keine Nationalökonomien mehr, es gibt sie nur noch als Recheneinheiten", so Lammert, seit diesem Jahr Vorsitzender der Konrad Adenauer Stiftung. Dadurch verlören die Staaten "den Kern ihres Selbstverständnisses", die Souveränität. Innerhalb der eigenen Grenzen Herr zu sein, das sei "rhetorisch hochattraktiv", habe mit den veränderten Realitäten aber kaum etwas zu tun. Die einzig zielführende Lösung sei für ihn, "Souveränität zu teilen", mit anderen Worten: Europa.

Als er nun an das Thema ging, "das uns nächstes Jahr hoffentlich beschäftigen wird", wurden die Worte des Christdemokraten aus Bochum eindringlich. "Lausig" sei die Beteiligung an den Wahlen zum europäischen Parlament, obgleich sie längst wichtiger seien als die für den Bundestag. Angesichts der aktuellen Zerwürfnisse innerhalb der EU komme den Stimmen der europäischen Bürger im nächsten Jahr eine "gewaltige Bedeutung" zu. Das werde zwar vor jedem Wahlgang behauptet, sagte er, aber ausnahmsweise sei das mal nicht übertrieben. Entweder könnten die Wahlen eine "Ouvertüre für einen überfälligen neuen Anlauf im europäischen Integrationsprozess" werden - oder der Anfang von dessen Ende.

Es war kein nette Vorweihnachtskerze, die Lammert den Gästen anzündete, sondern eine glänzende Rede. Seine Worte enthielten zwar eine eindringliche Warnung, aber er formulierte sie ohne den "verbissenen Ernst", den er im Gespräch mit dem Moderator Thorsten Otto vom Bayerischen Rundfunk kritisierte. Er habe sich schon immer über die Vermutung gewundert, so der Siebzigjährige, dass die Leute vor allem dann beeindruckt seien, "wenn man mit Schaum vor dem Mund redet".

Er bewies, wie viel rhetorischen Glanzlack sich spart, wer als Redner auch mal ins Schmunzeln kommt. Die Gelassenheit im Ton, die er sich für die Parlamentsdebatten wieder stärker wünschte, ist auch Kennzeichen eines demokratischen Meinungsaustauschs, der nicht über Polarisierung und Hetze funktioniert, sondern die Würde auch abweichender Meinungen und ihrer Vertreter respektiert. In jedem Fall ist sie das Kennzeichen dieses Christdemokraten.

© SZ vom 12.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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