Mitten in München:Tüten glätten, Umwelt retten

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Die Tante ist 99 Jahre alt. Ihr Verständnis von ressourcenschonendem Verhalten ist sehr aktuell

Kolumne von Anita Naujokat

Früher lächelte man über die Tante. Weil sie eine Plastiktüte erst mal dreimal umdrehte und zweimal auswusch, bevor sie sie dem Plastikcontainer anvertraute, wenn sie aufgrund von Rissen unbrauchbar waren. Eine ganze Schublade in der gemütlichen Küche war ihnen gewidmet, säuberlich gefaltet. Der vorsichtige Einwurf, dass man neue Tüten doch jederzeit im Geschäft erhalte, prallte an ihr ab. Nein, sie hatte schon damals ein natürliches Empfinden für die Ressourcen dieser Welt. Sie brauchte keine Umweltkampagnen und plötzliche Aufschreie von "Rettet die Meere" und "Plastik verschandelt unser Leben".

Was hätte es in der Tante wohl ausgelöst, wenn sie gewusst hätte, was etwa in den USA Usus ist. "Kein Einkauf, ohne dass der Kunde mit mindestens zehn Plastiktüten aus dem Laden geht", wie einem eine dort lebende Werkstudentin einmal erklärte. Da hätte die Tante wohl noch mehr Plastiktüten gefaltet und geglättet.

Seit ein paar Monaten rennt man selbst mit einer Plastiktüte in der Handtasche durch die Gegend. Mit ein und derselben. X-mal benutzt. Bis sie auseinanderfällt. Nie gewaschen. Sorry für die Jutetaschenverfechter, aber Plastik ist manchmal praktisch. Stoffe haben den Nachteil, durchzufetten. Alles schon probiert. Und das eine oder andere Croissant sollte eben nicht unangenehme Flecken auf wichtigen Papieren produzieren, das Handgepäck nicht nach der Käsesemmel riechen. Vielleicht hat einen Tantes Verhalten ja geprägt, ihr vorbildlicher Umgang mit Plastik. Würde sie in eine der heutigen Mülltonnen sehen, wäre sie entsetzt. Tütenweise Plastik, achtlos weggeworfen, Abfall, nie geschätzt.

Unsereiner, der jedes Teil sortiert und zum Wertstoffcontainer trägt - ja, man weiß um den Mülltourismus nach Asien - ist dennoch glücklich. Kaum noch Restmüll. Über Tantes Schublade lächelt man nicht mehr. Inzwischen hat man selbst eine. Folienfreies Einkaufen und Geschäfte mit offenen Behältern - da kann Tante wiederum nur lächeln. Alles schon dagewesen, früher. Tante ist mittlerweile 99 Jahre alt. Sie weiß noch, wie das war, als man den Hering noch aus dem Holzfass gereicht bekam. Und ihn danach in Papier wickelte - nicht in Plastik.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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