Mitten in Erding:Was alles schiefgehen kann

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Dass Angeklagte sich vor einer Verhandlung drücken, kann man verstehen. Wenn der Dolmetcher nicht kommt, muss jedoch etwas anderes dahinter stecken

Kolumne von Gerhard Wilhelm

Öffentliche Gerichtsverfahren können Lehrstunden des Lebens sein. Nirgendwo bekommt man besser alle Facetten des menschlichen Wesens mit. Seine Untiefen, aber auch tragische Schicksale. Und nirgendwo sonst - außer vielleicht bei Donald Trump - wird mehr gelogen als vor Gericht. Die Angeklagten dürfen dies sogar. Anders als ein Zeuge darf ein Angeklagter falsche Angaben machen, um sich selbst zu schützen. Denn es darf niemand dazu gezwungen werden, sich selbst mit einer Straftat zu belasten.

Aber manchmal kommt erst gar nicht zur Verhandlung, weil ein wichtiger Prozessbeteiligter fehlt. Wenn Prozesse für 8.30 oder 9.30 Uhr angesetzt sind, ist diese Gefahr groß. Ganz häufig kommt dann der Angeklagte einfach nicht, natürlich unentschuldigt. Hilft ihm vielleicht kurzfristig, aber auch nicht lange, denn wenn sein letzter bekannter Wohnsitz im Landkreis liegt, schaut auf Anweisung des Gerichts gerne mal die Polizei nach, warum es nicht klappt mit der Präsenz. Verschlafen? Keine Uhr? Kurzfristige Urlaubspläne in einem Land, das nicht ausliefert?

Aber auch Zeugen sind nicht davor gefeit, so einen Termin mal zu "vergessen". Im Gegensatz zum Angeklagten müssen sie die Wahrheit sagen. Sie dürfen die Aussage nur verweigern, wenn sie damit sich selbst oder ihnen nahestehende Personen belasten. Da kann dann schon mal beim Gericht ein Attest reinflattern, in dem von akuten plötzlichen Sprechstörungen als Entschuldigung die Rede ist.

Blöd ist es auch, wenn der Dolmetscher nicht kommt. Da mögen es alle Zeugen, Richter, Staatsanwalt und sogar der Angeklagte rechtzeitig geschafft haben - ohne Dolmetscher geht gar nichts.

Aber selbst dann, wenn der auch da ist, kann es sein, dass ein Prozess platzt, wie vor einiger Zeit im Erdinger Amtsgericht. Alle waren da, nur einer fehlte: der Pflichtverteidiger aus Hannover. Ein Anruf in seiner Kanzlei ergab die Antwort: nach seinem Terminkalender in München beziehungsweise Erding. Er sei am Vortag dorthin gereist. Ans Handy ging er nicht. Verspätung der S-Bahn? War keine bekannt. Verfahren? Keine Lust mehr gehabt? Jedenfalls wurde nach einer Stunde abgebrochen. Was zu dem Zeitpunkt keiner wusste: Der Verteidiger war gar nicht weit weg, Luftlinie rund 1,1 Kilometer. Den Armen hatte eine Biene gestochen, er reagierte allergisch. Sein erster Besuch in Erding endete im Krankenhaus. Ob er ein Attest vorlegen musste, oder sich noch mal nach Bayern gewagt hat, ist unbekannt.

© SZ vom 13.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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