Mitten in Erding:Warme Decke statt blaues Band

Der Hausherr hat die Heizung abgestellt. Es ist ja schließlich Frühling

Von CLAUDIA KOESTLER

Es ist in der Tat wenig zuverlässig, das Wetter. Doch immerhin, seit einigen Tagen präsentiert es sich endlich milder, so dass man ohne Weiteres das berühmte Mörike-Poem rezitieren könnte: "Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte". Ja, durch Dachau ist ein Ruck gegangen: Pudelmützen und Schals sind weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden, ab und zu blitzt sogar schon wieder ein gepiercter Bauchnabel unterm knappen T-Shirt hervor. Die Cabrios fahren nicht mehr ihre Hardtop-Dächer spazieren, und an den Wohnstraßen rüsten Männer ihre Autos von der Winter- auf die Sommerbereifung um oder polieren die Chromteile ihrer Motorräder.

Ach, herrlich, diese Frühlingsgefühle, diese Mischung aus Aufbruch, Verlangen und Lust auf ein Erdbeereis mit Sahne. Da ist es nachvollziehbar, dass sich die Sehnsucht nach wärmenden Sonnenstrahlen und das unbedingte Auskosten des Frühlings allenthalben bis in die Abendstunden ziehen. Diese aber erinnern zugegebenermaßen noch an ein russisches Hoch, das mit eisigem Wind zapfige Luftmassen bis an den oberländischen Alpenrand schaufelt. Väterchen Frost lässt grüßen.

Statt in die Eisdiele geht es also schnellstens nach Hause. Dort ist der Wein aus dem Kühlschrank wärmer als der vom Balkon, und drinnen sitzt man zähneklappernd am Esstisch, auf dem die heiße Tomatensuppe ob der Temperatur zu Gazpacho mutiert, die Scampi schmecken nach Eismeerkrabben. Auch das demonstrative Wickeln in einen isländischen Pullover und schließlich in eine Decke nützt nichts: Der Hausherr lässt kein blaues Band flattern, sondern hat stattdessen die Heizung abgestellt. Es ist ja schließlich Frühling!

© SZ vom 23.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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