Mitten in Erding:Kafkas Zug

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Würde Kafka noch leben, vielleicht würde er über einen Zug schreiben, der nicht fährt

Kolumne von Max Ferstl

Der Erdinger Bahnhof kann ein unwirtlicher Ort sein, eisig und still. Doch die Stimme aus dem Lautsprecher klingt beschwingt an diesem Mittwochabend. Als hätte sie gute Nachrichten zu überbringen: "Die Streckensperrung in Trudering ist behoben." Doch zu sehen ist davon nichts. Am Bahnsteig steht kein Zug.

Da stehen nur Menschen, wartend, die Köpfe zwischen die Schultern gezogen. Das Bild: ein Stillleben. Kaum einer bewegt sich, und auch dann nur ein paar Schritte. Gegen die Kälte. Ein paar rauchen, aber das fällt nicht auf, weil der Atem bei jedem Wartenden Wolken vor dem Mund bildet. Keiner spricht, bis auf die Stimme aus dem Lautsprecher, die so regelmäßig wie wirkungslos die Nachricht von der behobenen Streckensperrung verkündet. Ein paar schauen dann und wann auf die Anzeige, die im Grunde nichts anzeigt. Die Minuten bis zur nächsten Abfahrt laufen herunter. 4,3,2,1... Kein Zug.

Zynisch wirken in diesem Moment die Werbeplakate, die am Bahnsteig hängen. Ein Radiosender fordert "mehr Abwechslung" in der kalten Monotonie. Ein Autohersteller führt die Vorzüge seines Produktes vor. Selten waren sie überzeugender. Ein Auto, stets greifbar, erhaben über Abfahrtzeiten. Ein Uhrenhersteller zeigt seinen Chronometer, pünktlich auf die Sekunde. Wieder beginnt der Countdown auf der Anzeigentafel. 6,5,4,...15. Eine ältere Frau verlässt den Bahnsteig. Sie muss ahnen, dass der Zug auch in 15 Minuten nicht kommen wird.

Man hat Zeit, denkt an Kafka. Kafka hat in seinen Romanen über einen Prozess geschrieben, der nie verhandelt wird. Und über ein Schloss, dass der Protagonist trotz aller Anstrengungen nicht erreicht. Würde Kafka noch leben, vielleicht würde er über einen Zug schreiben, der nicht fährt. Wie die Stimme aus dem Lautsprecher neigt auch Kafka dazu, die Frage nach dem Warum unbeantwortet zu lassen.

© SZ vom 15.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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