Mitten in der S2:Analog anbandeln leicht gemacht

Lesezeit: 1 min

Nur gucken reicht nicht: Wer in der richtigen Welt jemanden kennen lernen möchte, muss sich schon ein bisschen was einfallen lassen

Von SEBASTIAN JANNASCH

Die Suche nach der großen Liebe überlässt der moderne Paarungswillige nicht mehr dem Zufall, sondern legt sie vertrauensvoll in die Hände von App-Programmierern. Für Smartphone-Besitzer durchwühlt eine Software Profile nach Hobbys, Vorlieben und Gehaltsklasse, bringt Sportskanonen, Origami-Liebhaber und Tatort-Fans zueinander, auf dass kein häuslicher Streit die Beziehungswonne je trüben möge. Algorithmen haben der glücklichen Fügung den Rang abgelaufen.

Regelrecht aus der Zeit gefallen erscheint da ein romantischer Anbandelungsversuch, der sich in der S-Bahn beobachten ließ. Eine junge Frau, um die 20, lange braune Haare, Kopfhörer im Ohr und ein Mann, Ende 20, kurze schwarze Haare, langer Mantel, sitzen einander schräg gegenüber. Immer wieder gucken sie zueinander, schauen ertappt aus dem Fenster, wenn sich die Blicke treffen. Ein Gespräch beginnen die beiden aber nicht. "Hi, wie geht's", lässt sich zwar leicht ins Handy tippen, doch in der Realität wollen die Worte nicht recht über die Lippen kommen. Die gespannte Stille nutzt die junge Frau allerdings, um sich offensiv in die Defensive zu bringen. Auf der Fahrt zur Endstation ergreift sie die Gelegenheit, um schon einmal zur Tür zu gehen, nicht ohne - ziemlich offensichtlich - ihre Mütze auf dem Sitzplatz liegen zu lassen. Damit der junge Mann der Begierde die Offerte auch ja versteht, schaut sie ihn eindringlich an, bevor sie in den Gang tritt.

Mit einer Mischung aus Aufregung und Sorge, ob die ausgelegte Liebesfährte auch entdeckt wird, blickt sie anschließend angestrengt zum Sitzplatz. Der Zugführer hat schon verkündet, dass der Wagen am Bahnhof abgestellt wird, die Türen öffnen gleich, da erhebt sich der etwas begriffsstutzige Liebhaber in spe, greift die Mütze und schreitet zur Tür. Sie, die noch gezögert hatte, auf den Bahnsteig zu treten, läuft umso bestimmter aus der Bahn, als sie merkt, dass der Plan aufgeht. Er holt sie ein, spricht sie an und übergibt die Kopfbedeckung, die ihren Dienst als Ansprechhilfe erfolgreich geleistet hat: Die beiden kommen ins Gespräch. Ganz ohne Handy, Facebook und automatischen Übereinstimmungsfilter. Ganz analog.

© SZ vom 09.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: