Mitten in der S-Bahn:Jucken im Ohr

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Nichts gegen Heavy Metal. Aber bitte nicht aus fremden Kopfhörern.

Von Max Ferstl

Der Karikaturist Ernst Hürlimann liegt auf dem Friedhof zu Bogenhausen begraben. Nach allem, was man weiß, genießt er verdientermaßen die ewige Ruhe. Schließlich verdankt die Welt Hürlimann Zeichnungen wie jene, die in den Achtzigerjahren in den Münchner U-Bahnen zu sehen war: Ein Mann fläzt sich auf einem Sitz, die Augen geschlossen, die Kopfhörer eines Walkmans im Ohr. Offenbar ist das Gerät sehr laut eingestellt, denn der Nebenmann, ein Herr mit Hut und Zeitung, hält sich das Ohr zu. Der Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) hatte die gut gemeinte, aber naive Idee, die Kunden zu rücksichtsvollen Menschen zu erziehen. Über der Karikatur stand: "Aus dem Walkman tönt es grell - dem Nachbarn juckt's im Trommelfell." Der MVV hatte Humor, aber keinen Erfolg.

Neulich in der S 2 Richtung Erding. Ein junges Pärchen steigt ein, es teilt sich ein Paar Kopfhörer. Sie gibt den DJ, entscheidet sich für Heavy Metal, dreht voll auf. Aus dem Smartphone, dem Ururenkel des Walkmans, tönt es so grell, dass es dem Nachbarn nicht nur im Trommelfell juckt. Nichts gegen Heavy Metal. Auch andere Genres mutieren auf diese Art zu undefinierbarem Klangbrei. Soft Pop, Rap, Klassik - alles lässt sich in Münchens Zügen indirekt hören. Alles juckt gleich. Sämtliche kritische Blicke ignorierend beginnt das Pärchen eine Unterhaltung, ebenfalls sehr laut, schließlich muss der Heavy Metal im Innenohr übertönt werden. Das Jucken lässt erst nach, als beide die Ansage der Haltestelle überhören und in Ottenhofen statt Poing aussteigen.

Natürlich war früher nicht alles besser. Manches aber schon. Aus gutem Grund waren in den Achtzigern "Tonwiedergabegeräte aller Art" in Zügen verboten. So stand es auf dem MVV-Plakat. "Aber: Was andere nicht hören, wird auch nicht stören." Man öffnete den Kunden also ein großzügiges Schlupfloch. Diese Praxis hat der MVV ebenso vergessen wie Hürlimanns Karikaturen. Der dürfte es wohl verschmerzen. Er hat ja seine Ruhe.

© SZ vom 12.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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