Mitten in der S-Bahn:Der Rassist nebenan

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Rassismus ist so weit weg - eigentlich

Von Thekla Krausseneck

Twitter ist das soziale Netzwerk des geordneten Chaos. Aus allen Winkeln der Erde spült es zusammenhangslos Informationen in eine Timeline, schiebt Neuigkeiten aus Israel, den USA oder Darmstadt zwischen Erkenntnisse über das Leben, bietet Platz für Fotos aus der Natur, politische Statements und tagebuchartige Tweets - und kennt auch sonst so gut wie gar keine Grenzen. Auch nicht für rechtsextreme Propaganda, die von den Netz-Nazis ebenso emsig produziert wie von den übrigen Nutzern bekämpft wird. Die Erfolgsaussichten sind allerdings gering: Ähnlich wie bei Facebook macht sich ein Rassist und Holocaust-Leugner auf Twitter keines Verstoßes schuldig. Das ist fast so, als schriebe jemand seinen menschenverachtenden Tweet in einer S-Bahn auf einen Mülleimer, dorthin, wo ihn jeder sehen könnte, wo sich aber niemand für ihn zuständig fühlte - mit Ausnahme der Deutschen Bahn, die sich dann aber wohl weniger über Rassismus als über Vandalismus beklagte.

Die Wahrscheinlichkeit, in diesem Mikrokosmos des globalen Lebens auf einmal etwas aus dem eigenen Städtchen zu entdecken, ist verschwindend gering, wenn man nicht gerade Menschen aus diesem Ort folgt. Passiert es dann doch, wirkt die Welt auf einmal ziemlich winzig. Die Welt zum Schrumpfen gebracht hat vor kurzem eine junge Frau, die auf Twitter ein Foto veröffentlichte. Darauf zu sehen eine Sitzbucht der S 7, wie sie in ihrem Tweet dazu schreibt, und ein grauer Metallmülleimer, auf den jemand mit schwarzer Farbe "Islam sucks" geschrieben hat. Daneben sitzt ein muslimischer Mann, der eine Gebetskappe trägt und gerade den Schriftzug liest. Das ist nicht in Israel, in den USA oder in Darmstadt, das ist sozusagen nebenan. Und die junge Frau schreibt dazu: "In solchen Momenten schäme ich mich für diese Gesellschaft." Zum Glück gibt es Menschen wie sie, die ein Grund sind, nicht ganz so pessimistisch zu denken.

© SZ vom 22.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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