Mitten in der Region:Flüchtiges Glück

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"Niemand macht mehr Millionäre" und "Nur wer mitspielt, kann gewinnen" - das sind nicht nur olle Lotto-Slogans, sondern tiefsinnige Weisheiten. Oder?

Kolumne von Carolin Fries

Der Lottogewinner verzieht keine Miene. Gerade hat ihm der junge Mann an der Kasse im Schreibwarenladen mitgeteilt, dass er gewonnen hat - doch der Mann, geschätzte 65 Jahre alt, reagiert kaum. Scheinbar ungerührt steht er wie ein Fels im Schulstart-Tsunami, der dieser Tage die Schreibwarenläden überrollt. Um ihn herum ein einziges Gewusel, alles dreht sich lautstark um DIN-Formate von Heften, Minenstärken von Bleistiften und Modelle von Geodreiecken. Die Leute, die hinter dem Lottogewinner anstehen, hatten gerade eben auch noch nur ihre Liste der zu besorgenden Schulmaterialien im Sinn, wie sie das Kind wenige Stunden zuvor aus dem Ranzen gezogen hatte. Jetzt verliert der Zettel allerdings kurzerhand an Bedeutung.

Bilder des älteren Herren auf einem Kreuzschiff tauchen vor dem inneren Auge auf, ein kleines bewohntes Schloss in Gauting, idyllisch an der Würm gelegen. Und natürlich eine klassische Boulevard-Schlagzeile, die den Millionengewinn für einen Rentner aus dem Münchner Umland verkündet, dessen Identität freilich niemand kennt und der künftig sicher nurmehr sein Personal in diesen Schreibwarenladen schicken wird.

Ach ja, das Schicksal ist schon ein Biest. Schließlich steht man in der Schlange ja gleich an nächster Position. Zumindest hier im Schreibwarenladen. Gut, okay, man hat nicht Lotto gespielt. Nicht diese Woche, auch nicht letzte, eigentlich grundsätzlich nicht. Dennoch fühlt man sich plötzlich irgendwie ganz nah dran am großen Glück.

Der Mann dankt und nickt. 12,45 Euro hat ihm der Kassierer auf den überfüllten Verkaufstresen zwischen Radiergummis und Deckweißtuben gelegt. Er steckt das Geld ein und wedelt sogleich mit zwei neuen Lottoscheinen. Der nächste Versuch für den großen Gewinn. Wovon er wohl träumt? Das neue Spiel kostet siebzehn Euro und ein paar Zerquetschte. Der Beinahe-Millionär agiert routiniert, zahlt, verstaut die Belege. Für die Buchhaltung, wie er nebenbei bemerkt. Er spiele "schon seeehr lange". Was dabei unterm Strich rauskommt?

© SZ vom 17.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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