Mitten in der Region:Das große Plappern

Lesezeit: 1 min

Umso lauter geschrien wird, desto mehr Ohren im Umkreis werden erreicht

Kolumne von Anna-Elisa Jakob

Es ist Wochenende, das Wetter schön und die Leute im Garten. So erfährt man plötzlich alle Details der Trennung des Neffen der telefonierenden Nachbarin, der Bewohner von nebenan erläutert synchron seine mehr oder weniger bewährten Tipps zum Hausputz, und mit dem Grillgeruch aus dem zweiten Stock weht die ein oder andere skurrile Diskussion über den neuen "Tatort" oder die "Tagesschau" mit. Es wird hemmungslos geteilt. Teilweise unbedacht, weil so selbst sensible Informationen (tatsächlich benutzt besagter Nachbar äußerst fragliche Reinigungsmixturen) hohe Wellen schlagen können. Genau wie die täglichen Gesangseinlagen der Fünfjährigen gegenüber, die mit opernverdächtigem Stimmvolumen Radio-Hits vom Balkon schmettert.

Umso lauter geschrien wird, desto mehr Ohren im Umkreis werden erreicht. Genau darin steckt die vielleicht treffendste Parallele zur aktuellen Netzdebatte: Wer was wann im Internet sagen sollte - ausgelöst durch die Reaktion der CDU auf das Video des Youtubers Rezo. Entstanden sind Diskussionen, die so auch am Gartenzaun stattfinden könnten: So reden Alt und Jung ähnlich aneinander vorbei wie Grill- und Frischluftfanatiker. In einem Gesprächsklima, das sogar Verständnis für den Mann aus dem Nebenhaus weckt, der bei der letzten Gesangsanlage selbst mit seinem "Ruhe!"-Schrei stimmliche Rekorde bricht. Es ist ein hitziger Austausch von Irrelevantem bis gesellschaftlich Brisantem, sowohl im Garten als auch im Netz.

Man könnte die Balkontür schließen, um nicht mit dem unberechenbaren Phänomen dieses Austausches in Berührung zu kommen - entsprechend bisheriger Social-Media-Strategien mancher Parteien. Man kann auch den Dialog suchen, Diskussionen vom Gartenzaun brechen. Ein Potenzial steckt allerdings nur in der digitalen Welt: Wer sich darauf einlässt, kann nach Inhalt und Interesse gewichten, nicht allein nach Lautstärke. Das könnte eine Stärke für fundierte Diskussionen sein. Und etwas, das man sich auch für die Gartensaison wirklich wünschen würde.

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: