Mehr Notrufe im Landkreis:Notfallschnupfen

Lesezeit: 3 min

61 Prozent mehr Notrufe als vor zehn Jahren: Die Rettungsleitstelle Erding muss in einer Flut von Bagatellfällen die richtigen Prioritäten setzen und nimmt dafür einen schlechten Wert in Kauf

Von Thomas Daller, Erding

Die Zahl der Fälle, in denen Notärzte oder Sanitäter gerufen werden, hat in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen. Bayernweit gab es von 2006 auf 2015 einen Anstieg von 54 Prozent, im Bereich der drei Landkreise Erding, Freising und Ebersberg waren es im gleichen Zeitraum sogar 61 Prozent. Das liegt jedoch nicht daran, dass nun die geburtenstarken Jahrgänge in ein Alter kommen, in dem sie gesundheitlich anfälliger werden. Vielmehr ist die Hemmschwelle stark gesunken, den Rettungsdienst auch wegen Kleinigkeiten zu rufen. Intern kursiert bei den Rettungsdiensten dafür ein eigener Begriff: Man spricht vom Notfallschnupfen.

Die Zahlen stammen aus dem Rettungsdienstbericht Bayern, und wurden vom Bayerischen Innenministerium und dem Institut für Notfallmedizin zusammengestellt. Sie bilden ein landes- und auch bundesweites Phänomen ab: So ist in den bayerischen Landkreisen die Zahl der Notfallereignisse pro 1000 Einwohner von 44 im Jahr 2006 auf 69 im Jahr 2015 gestiegen. Im Bereich der Integrierten Leitstelle Erding, in denen die Notfälle aus den drei Landkreisen Erding, Freising und Ebersberg gebündelt bearbeitet werden, waren es im Jahr 2015 insgesamt 32 200 Notfallereignisse auf 441 800 Einwohner im Rettungsdienstbereich. Das sind 73 Notfallereignisse je 1000 Einwohner. Diese 32 200 Einsätze sind jedoch nur die Spitze einer Vielzahl von Anrufen, die die sogenannten Disponenten entgegen nehmen: 2014 wurde die Integrierte Leitstelle 150 000 mal angerufen und 2015 waren es sogar 165 000 Anrufe. "Eine Vielzahl der Anrufe sind hier Mobiltelefone, bei denen versehentlich die Notruftaste betätigt wurde", heißt es im aktuellen Leistungsbericht des Fachbereichs 33 des Landratsamtes Erding, Brand- und Katastrophenschutz. Aber auch bei den 32 200 Einsätzen, zu denen Sanitäter und Notärzte gerufen wurden, waren viele darunter, die keine Notfälle gewesen sind, sondern lediglich Husten, Schnupfen oder Fieber. "Ich habe das Gefühl, dass die Rettungskräfte oft auch wegen Kleinigkeiten ausrücken müssen", sagte Oliver Platzer, Sprecher des Bayerischen Innenministeriums. Es sind sogar schon Fälle bekannt geworden, in denen der Notarzt beispielsweise wegen eines eingerissenen Fingernagels gerufen wurde.

Alle Hände voll zu tun hat die Rettungsleitstelle, in der die Notrufe aus den drei Landkreisen Erding, Freising und Ebersberg ankommen. (Foto: Renate Schmidt)

Nicht immer ist die unnötige Alarmierung vorsätzlicher Missbrauch, oft können Patienten wirklich nicht einschätzen, ob der Druck in der Brust aus dem Magen hochzieht oder Zeichen für einen Infarkt ist. Deswegen klagen die Rettungsdienste über dieses Ärgernis auch kaum öffentlich, weil nicht der Eindruck entstehen soll, es gebe hier eine Grauzone voller Hypochonder und Simulanten. Wer das Gefühl hat, er benötige die Hilfe des Rettungsdienstes, soll weiterhin die 112 wählen. Ohne wenn und aber.

Dennoch birgt diese Entwicklung mit der steigenden Zahl von Notfalleinsätzen die Gefahr, dass der Rettungsdienst in der Zeit, in der er mit einem Bagatellfall beschäftigt ist, eventuell einen lebensrettenden Einsatz nicht leisten könnte. Wie man das Problem bei der Integrierten Leitstelle in Erding gelöst hat, darüber gibt wiederum der Rettungsdienstbericht Bayern Aufschluss: Denn auf Seite 58 stutzt man über einen vordergründig schlechten Wert, den die Leitstelle in Erding aufweist. Dabei handelt es sich um das Leitstellenintervall. Dieses Intervall ist definiert als der Zeitraum, in dem der Disponent bei einem Anruf die Eingabemaske für diesen Notfall am Computer öffnet, bis hin zur sogenannten "Alarmierung der Rettungsmittel". Er sammelt also relevante Informationen nicht nur zum Einsatzort, sondern auch um welche Art von Notfall es sich handelt. Diese gibt er dann an den Rettungswagen weiter, der umgehend ausrückt. Im bayernweiten Vergleich liegt die Erdinger Leitstelle mit zwei Minuten und 29 Sekunden auf dem vorletzten Platz; nur in Nürnberg dauert es mit zwei Minuten und 40 Sekunden noch länger. Der bayerische Durchschnitt liegt bei zwei Minuten und fünf Sekunden.

Allerdings geben diese paar Sekunden, die man sich in Erding zusätzlich Zeit nimmt, auch einen besseren Aufschluss über den vorliegenden Notfall. Und man kann dadurch präziser entscheiden, ob ein Notarzt mitfahren muss, oder ob auch ein Rettungssanitäter die erforderliche Hilfe leisten kann. Das hat zur Folge, dass der Notarztanteil im Bereich der Leitstelle Erding zusammen mit München mit bis zu 30 Prozent zum niedrigsten in ganz Bayern zählt. Somit steht immer ein Notarzt bereit, wenn tatsächlich ein lebensrettender Einsatz erforderlich ist.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: