Mehr Kindswohlgefährdungen:Hilfe bei akuter Gefahr

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Die Zahl der Meldungen sind heuer stark angestiegen. 2018 hat das Erdinger Jugendamt 39 Mal eine Inobhutnahme erwirkt und die Betroffenen aus der Familie geholt

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Inobhutnahme ist die Ultima Ratio, das letzte hoffentlich geeignete Mittel des Jugendamtes, Kinder aus Familien zu nehmen, wenn das Wohl eines Kindes akut gefährdet ist - sei es durch Vernachlässigung oder durch physische oder psychische Gewalt, manchmal auch sexueller Gewalt. Im Landkreis Erding ist das Jugendamt im vergangenen Jahr 39 Mal wegen akuter Kindeswohlgefährdung eingeschritten, es kam zu einer Inobhutnahme. 209 Meldungen sind insgesamt 2018 beim Jugendamt eingegangen, und es wurde geprüft, ob eine Gefährdungen vorliegt. In 37 Fällen war dies der Fall, bei vier weiteren wurde ein "latente Kindeswohlgefährdungen" festgestellt, 39 Mal wurde die Inobhutnahme vollzogen. In den anderen Fällen war zudem 97 Mal Unterstützungsbedarf durch das Amt notwendig, wie Claudia Fiebrandt-Kirmeyer, Pressesprecherin des Landratsamtes mitteilt.

Im vergangenen Jahr hatte in Deutschland die Zahl der Kindeswohlgefährdungen einen neuen Höchststand mit 50 400 Fällen erreicht. Auch im Landkreis Erding werden dem Jugendamt am Landratsamt Erding Jahr für Jahr Fälle im unteren dreistelligen Bereich gemeldet. Nach 209 im vergangenen Jahr sind es von Januar bis September 2019 aber schon 220 gewesen, wie Fiebrandt-Kirmeyer mitteilt. Als "Kindeswohl gefährdende Erscheinungsformen" unterscheidet das Jugendamt körperliche und seelische Vernachlässigung, seelische und körperliche Misshandlung sowie sexuelle Gewalt und Missbrauch. All diese Formen kommen im Zuständigkeitsbereich des Erdinger Jugendamtes vor, sagt die Pressesprecherin.

"Das Jugendamt wird durch die Familien selbst oder durch Dritte wie das soziale Umfeld (Nachbarn, Freundeskreis), durch Jugendsozialarbeit, Schule oder Tagesstätten aber auch durch andere Fachstellen und Kliniken über Anhaltspunkte einer möglichen Gefährdung informiert", sagt Fiebrandt-Kirmeyer. Leider stelle man auch des Öfteren in bereits betreuten Familien eine Kindeswohlgefährdung fest.

Aber auch von sogenannten Geheimnisträgern wie Ärzten, Psychologen oder Lehrern würden "gewichtige Anhaltspunkte einer Gefährdung, die in der beruflichen Tätigkeit bekannt werden, an das Jugendamt weitergegeben".

Ob dann tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, entscheide das Amt nur immer in Kooperationen mehrerer Fachkräfte. Dazu kommen manchmal Hausbesuche, Beobachtungen des sozialen und institutionellen Umfeldes und wenn nötig, eine fachärztliche und psychologische Untersuchung.

Bei den in diesem Jahr schon 220 Verfahren ist nach Angaben des Jugendamtes bereits 35 Mal die Gefahr festgestellt worden, "dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt". 25 Mal wegen Vernachlässigung, je drei mal wegen sexueller Gewalt und körperlicher Misshandlung und viermal wegen psychischer Misshandlung. In 107 Fällen wurde vom Jugendamt Unterstützung zugesagt, wie zum Beispiel sozialpädagogische Familienhilfe, die die Familie im häuslichen Umfeld unterstützt, teilstationäre Angebote wie Tagesstätten zur Förderung der Kinder und flankierender Elternberatung.

Bei einer akuten Kindeswohlgefährdung steht dem Jugendamt nur die Inobhutnahme als Instrument zur Verfügung, mit dem es unmittelbar in das elterliche Sorgerecht eingreifen kann - auch gegen den Willen seiner Eltern. Im letzteren Fall muss dann das Familiengericht am Amtsgericht Erding entscheiden. Nach Einschätzung von Stefan Priller, dem stellvertretender Direktor des Amtsgerichts, willigen die meisten betroffenen Eltern aber in eine Inobhutnahme ihres Kindes oder sogar ihrer Kinder ein, da diese immer die UltimaRatio sei, wenn vorangegangene ambulante Hilfsmaßnahmen erfolglos geblieben seien. Die Verhältnisse in den Familien seien nach Priller in diesen Fällen bereits oft so kritisch, dass die überwiegende Zahl der Eltern die Maßnahme akzeptiere.

Das Jugendamt ist laut Fiebrandt-Kirmeyer bei einer akuten, dringenden Gefährdung eines Kindes sogar zur Inobhutnahme gezwungen - zum Wohl der Minderjährigen. Die Zahlen lagen in den vergangenen Jahren in etwa auf gleicher Höhe: 2016 waren es 42 Inobhutnahmen, 2017 und 2018 jeweils 39. Im Jahr 2014 waren es nur 18 gewesen. Die Gründe für eine Inobhutnahme seien in der Regel familiäre Krisen, wie Krankheit, Tod und Überforderung der Eltern, wodurch die Versorgung der Kinder nicht mehr sichergestellt sei. Eine körperliche und emotionale Misshandlung oder Verwahrlosung, sexuelle Gewalt oder sonstige Gefahr. Aber auch auf Wunsch des Kindes oder des Jugendlichen könnte eine Inobhutnahme ausgesprochen werden. Oberstes Ziel sei laut der Pressesprecherin immer, "eine zielorientierte, wirksame Lösung im Einvernehmen mit den sorgeberechtigten Eltern und dem Kind beziehungsweise Jugendlichen zu erarbeiten".

© SZ vom 06.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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