Kirche in Erding:Ein Scherbenhaufen

Lesezeit: 2 min

Auf das Gutachten über den Missbrauch im Erzbistum München und Freising folgt nun eine Austrittswelle. Auch im Landkreis kehren immer mehr Menschen der Kirche den Rücken

Von Regina Bluhme, Erding

Nach dem Gutachten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Erzbistum München und Freising wenden sich immer mehr Gläubige von der Kirche ab. Auch die Standesämter von Dorfen, Erding und Taufkirchen verzeichnen für Januar einen starken Anstieg der Austrittsanträge. In Dorfen zum Beispiel hat sich die Zahl im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht. Und es sind oft gerade die engagierten Mitglieder, die jetzt voller Enttäuschung der Kirche den Rücken kehren.

In der Großen Kreisstadt haben Stand Donnerstag 65 Menschen einen Kirchenaustritt beantragt. Zum Vergleich: Im Januar 2021 waren es 21. Es ist nicht die erste Austrittswelle. Markus Grimm, Leiter des Standesamts Erding, kennt das Auf und Ab. Jedes Mal nach dem Publikwerden eines Missbrauchskandals innerhalb der Kirche würden die Austrittszahlen kurzfristig ansteigen und dann wieder abflauen.

In Dorfen waren es im Januar 2021 noch sieben Kirchenaustritte, Stand Donnerstag Vormittag sind es bereits 28. Und wer weiß, ob noch bis zum 31. Januar der eine oder andere Anruf das Standesamt der Stadtverwaltung erreicht. Das sei schon bedeutend mehr als im vergangenen Jahr, sagt Pressesprechering Gudrun Gersbach, die beim Anruf der SZ bereits eine Aufstellung vorweisen konnte. Die Jahreszahlen insgesamt schwanken: 2018 waren es 120 Austritte, 2019 dann 140. Im Jahr 2020 "nur" 105, dafür im Jahr drauf dann 187.

Für die statistische Auswertung werde nicht zwischen den unterschiedlichen Konfessionen unterschieden, ist sowohl in Dorfen als auch Erding zu erfahren. In Dorfen waren es sowohl im Januar 2021 als 2022 ausschließlich Katholiken, die der Kirche den Rücken kehrten. In Dorfen ist aber auch der Großteil katholisch.

Gabriele Valentin vom Standesamt Taufkirchen hatte im Januar 21 drei Austrittstermine zu verzeichnen, im Januar 22 sind Stand Donnerstag bereits 18 Termine vergeben - sechsmal so viele. Alle Antragsteller seien katholisch. Die meisten erklärten nur kurz, sie wollten aus der Kirche austreten, sagt Gabriele Valentin. Manche machten aber auch ihrem Ärger am Telefon Luft: "Es reicht's", das habe sie auch schon gehört.

Mit langen Wartezeiten wegen der Austrittswelle rechnen die Standesämter nicht. "Wir versuchen, möglichst zeitnah einen Termin einzuplanen", sagt Markus Grimm. Corona-bedingt beziehungsweise jahreszeitlichbedingt würden am Standesamt Dorfen gerade wenige Trauung stattfinden und somit sei der Ansturm gut zu bewältigen, erklärt Gudrun Gersbach. Allerdings müssen die Austrittswilligen persönlich vorstellig werden und sowohl in Dorfen als auch in Erding 35 Euro für den Verwaltungsakt berappen. Dann geht es alles ganz schnell, eine Erklärung ohne Angaben von Gründen wird unterschrieben. Das war's. Ein reiner Verwaltungsakt. Die Ausgetretenen erhalten eine beglaubigte Abschrift und das Standesamt verschickt die Mitteilung ans jeweilig Einwohnermelde-, Finanz- und Kirchensteueramt.

Der Anruf der SZ kurz nach 12 Uhr erreicht den Erdinger Stadtpfarrer Martin Garmaier am Donnerstag beim Verfolgen der live-geschalteten Pressekonferenz von Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, die will er nicht versäumen. Eine halbe Stunde später ruft Garmaier zurück. Marx hatte seine moralische Verantwortung betont und die von sexuellem Missbrauch Betroffenen und auch die Gläubigen um Entschuldigung gebeten. Er habe die Aussagen Marx als "ehrlich, grundehrlich" empfunden, sagt Pfarrer Garmaier. Dies sei ihm "unwahrscheinlich hoch anzuerkennen". Gleichwohl stehe die Kirche nun "vor einem Scherbenhaufen". Das Gutachten über die jahrzehntelange Vertuschung von Missbrauchsfällen sei sehr hart, hart auch deswegen, weil der Eindruck entstehe, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde. "Man hat nur darauf geschaut, dass das Bild der Kirche nach außen keinen Schaden nimmt", so Garmaier.

"Die, die jetzt gehen, treten vielfach aus Enttäuschung aus", sagt Pfarrer Garmaier. "Aber ich muss zugeben: stellenweise auch verständlich.". Es sei aber besonders schmerzlich, dass vor allem auch engagierte, interessierte Leute der Kirche den Rücken kehren. "Und gerade diese Menschen brauchen wir doch jetzt, Menschen, die konstruktive Kritik üben" und so auch etwas voranbringen und helfen könnten, den Scherbenhaufen neu aufzubauen.

© SZ vom 28.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: