Geschichte der Langen Zeile:Und dann kam das Auto

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Revolutionär wäre eine Fußgängerzone in der Langen Zeile, wie sie die ÖDP vorschlägt, nicht. Mehr als 700 Jahre war die Straße ein Ort mitten in der Stadt, wo es viel Platz für Geschäfte und Kommunikation gab

Von Mathias Weber

Der Rüffel an den Magistrat der Stadt Erding dürfte es in sich gehabt haben - er kam von höchster Stelle. Der Regierungspräsident von Oberbayern war 1872 zu Besuch in der Stadt, und was ihn in der Langen Zeile erwartete, gefiel ihm gar nicht. Bis zu den Knöcheln, heißt es, sei er im Matsch stecken geblieben. Das sollte aber nicht mehr passieren: Mit der kurz zuvor eröffneten Bahn sind schleunigst beste Granitsteine aus dem Bayerischen Wald nach Erding gebracht worden, und die Altstadt wurde endlich gescheit gepflastert.

Man vergisst es ja ganz gerne, aber schöne Fußwege - das ist eine recht moderne Angelegenheit. Jahrhundertelang sind die Menschen durch Dreck und Matsch gewatet, auch in der Langen Zeile; das Museum Erding verfügt sogar über eine Fotoaufnahme aus der Mitte der 1860er-Jahre - Teil der ersten Fotoserie über die Stadt überhaupt - auf der die Lange Zeile nicht mehr ist als eine Matschpiste. Und so prachtvoll, wie sich einige ihrer Gebäude heute zeigen, war sie lange Zeit auch nicht - einfache, einstöckige Häuser haben das Gesicht der Straße über Jahrhunderte hinweg geprägt; unsere heutigen prachtvoll verzierten Gebäude sind im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Aber eines, das war die Lange Zeile die längste Zeit ihrer Existenz: eine Fußgängerzone.

Und das soll sie auch wieder werden - minus dem Dreck an den Füßen. Die Erdinger ÖDP hat mit dem Vorschlag, die Lange Zeile zu einer Fußgängerzone zu machen oder sie verkehrlich zu beruhigen, eine Diskussion losgetreten und die Fantasie der Erdinger beflügelt. Die Erdinger SPD, die schon vor fast 20 Jahren dieselbe Idee hatte, hat sich flugs den Forderungen der ÖDP angeschlossen. Genauso schnell haben aber Vertreter der CSU und der Gewerbetreibenden entlang der Langen Zeile der Idee eine Absage erteilt (eine Übersicht der Stimmen auf der Schwerpunktseite R11).

Das Thema reizt die Erdinger, auch wenn der stadtplanerische Fokus in diesen Tagen woanders liegt, in der Haager Straße zum Beispiel, die mittelfristig eine Aufwertung erfahren soll. Aber die Lange Zeile ist nun einmal einer der zentralen Orte der Stadt, sogar auf den braunen Schildern an der Autobahn, die auf kulturelle Highlights entlang der Strecke hinweisen, ist die Häuserzeile der Langen Zeile abgebildet.

Historisch gesehen war die Lange Zeile immer ein zentraler Versammlungsort in der Stadt. Erding, im 13. Jahrhundert als herzoglicher Stützpunkt bewusst zwischen Landshut und München angelegt, ist eine Planstadt. Das Layout der Stadt war vorbestimmt, die zahlreichen Plätze der Stadt waren für die verschiedenen Märkte vorgesehen, der Kleine Platz war der Rindermarkt, der Schrannenplatz wurde als wichtigster Markt für den Getreidehandel angelegt. Auf der Lange Zeile wurden mehrmals pro Woche Warenmärkte abgehalten, auch Jahrmärkte fanden dort statt; der Kehrmarkt zum Beispiel oder der Kathreinmarkt, der heute noch im Spätherbst in der Langen Zeile seinen Platz findet. Wie auch anderswo haben in den 20er-Jahren die ersten Autos die Innenstädte erreicht, in den darauffolgenden Jahren, und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, haben sie die Städte komplett übernommen. Auch Erding wollte sich dem Trend zur autofreundlichen Stadt nicht entziehen: Historische Fotos zeigen in den 30er-Jahren eine gepflasterte Mittelinsel entlang der Langen Zeile, rechts und links davon eine geteerte Fahrbahn. Nach dem Krieg wird die Straße komplett geteert, links und rechts werden zahlreiche Parkplätze eingerichtet, die Autos können direkt vor den Geschäften parken (Postkarte oben). Viel los ist auf den Fotos der 60er- und 70er-Jahre aber nicht, kaum Fußgänger sind unterwegs, auch Autos fahren wenige.

Keine Überraschung: Damals lebten in Erding weniger Einwohner, dementsprechend weniger Autos fuhren durch die Stadt. Anfang des neuen Jahrtausends hat die Lange Zeile ihre heutige Gestaltung bekommen; den Bürgersteigen und Cafés wurde mehr Platz gegönnt. Den Charakter als Durchgangsstraße hat sie aber nicht abschütteln können. Vielleicht führen aber immer mehr Einwohner und immer mehr Erdinger dazu, dass die Lange Zeile doch einmal wieder den Fußgängern überlassen wird. Wie in der längsten Zeit der Stadtgeschichte - ohne den Matsch natürlich.

© SZ vom 01.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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