Erding:Mensch im Mittelpunkt

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Sechstklässler des Anne-Frank-Gymnasiums beim Projekt Perspektivwechsel

Von SOPHIA NEUKIRCHNER, Erding

Sophia sitzt im Rollstuhl. Sie weiß noch nicht so recht, wohin mit ihren Armen, ist ja auch ihr erstes Mal. "Ist das so angenehm für dich, wenn wir sprechen, während ich deinen Rollstuhl schiebe?", fragt Henriette. Sophia meint, sie würde ihr beim Sprechen lieber in die Augen schauen. Aber sie könne ja den Kopf zu ihr drehen, schlägt ihr Klassenkamerad vor. "Und was ist, wenn sie ihren Kopf nicht bewegen kann?", wirft Umut ein, der an einer spastischen Lähmung leidet und dessen Kopf in einer Kopfstütze seines eigenen Rollstuhls ruht. Nun ist die sechste Klasse des Anne-Frank-Gymnasiums Erding, die am Freitag das Projekt Perspektivwechsel durchläuft, ratlos. Die Betreuerin der Station Rollstuhlparcours, Henriette Weiß, Studentin der Sozialen Arbeit, erklärt, wie man es richtig macht: die schiebende Position verlassen und sich vor den Menschen im Rollstuhl knien, damit man auf Augenhöhe miteinander reden kann.

"Als nächstes seid ihr blind", sagt Rebecca Kania und führt die Gruppe zur zweiten der fünf Stationen. Die Schülerin der elften Klasse ist Mitglied im Arbeitskreis Schule ohne Rassismus, der bei der Veranstaltung hilft. Bei jeder der halbstündigen Stationen stehe der erlebte Perspektivwechsel im Mittelpunkt, sagt Hermann Reinhard, Lehrer am Gymnasium und Leiter des Arbeitskreises. Dadurch würden die Schüler einen Bewusstseinswandel erleben und danach unbefangener mit Behinderung umgehen.

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(Foto: Renate Schmidt)

Die Sechstklässlerin Sophia (v. re.) lernt im Anne-Frank-Gymnasium, wie es ist, im Rollstuhl zu sitzen und auf Hilfe angewiesen zu sein. Umut (li.) und Henriette Weiß (Mitte) geben Emma Tipps zum Schieben.

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(Foto: Renate Schmidt)

Nach der gegenseitigen Begrüßung beginnt der Perspektivwechsel für die Schüler der sechsten Klasse.

Früh Berührungsängste abbauen, sei das Ziel an diesem Vormittag, sagt Anita Donaubauer, die das Projekt Perspektivwechsel ins Leben gerufen hat und selbst durch eine frühkindliche Hirnschädigung an den Rollstuhl gebunden ist. Voneinander lernen und gemeinsam Spaß haben natürlich auch. Nebenbei helfe das Projekt den teils schwer mehrfach behinderten Menschen, indem sie Sprechen üben und einen Tag außerhalb gewohnter Strukturen verbringen können, sagt Donaubauer: "So haben beide Seiten einen Gewinn."

Nun helfen die Sechstklässler Anita Donaubauer dabei, ihre Jacke anzuziehen, und sollen dann selbst mit simulierter Greifbehinderung versuchen, die Jacke an sich selbst zuzuknöpfen. Eine filigrane Sache, die nicht ohne Hilfsmittel funktioniert. Rasanter geht es beim Rollstuhlbasketball in der Turnhalle zu.

In der Gesprächsrunde einige Klassenzimmer weiter ist es ruhiger. Der 29-jährige Christopher berichtet aus eigener Erfahrung, dass die Rollstuhlplätze im Kino "echt beschissen" sind: entweder nicht vorhanden oder so angeordnet, dass er nicht ordentlich sehe und der Betreuer zu weit entfernt sitze, um ihm etwas zu trinken zu reichen. Und wenn es nur zwei Plätze gibt, die bereits ausgebucht sind, könne er gar nicht ins Kino gehen. Es sei wichtig, den Kindern zu zeigen, dass Menschen mit Behinderung auch normale Hobbys haben, sagt er, aber eben auch, wo die Schwierigkeiten im Alltag liegen. Christopher erzählt dann, dass er im Sommer zum EM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Italien nach Frankreich geflogen sei und beste Sicht auf den entscheidenden Elfmeter hatte.

Bei einem Blindenparcours konnte die Schüler Behinderung selbst erfahren. (Foto: Renate Schmidt)

"Im Laufe des Tages rückt der Mensch in den Vordergrund und die Behinderung dahinter", sagt Donaubauer. 1200 Euro koste es, wenn das Projekt Perspektivwechsel für einen Tag an die Schule kommt, erklärt die 47-Jährige. Laut Donaubauer bezahlt der Förderverein des Gymnasiums davon ein Drittel, der Rest werde durch das Kultusministerium und Spenden finanziert. Die sieben schwerbehinderten Menschen, die für diesen Einsatz nach Erding gekommen sind, tun dies ehrenamtlich und werden dafür von ihrer Arbeit im Förderzentrum Freimann und Giesing freigestellt. Das Projekt soll Inklusion fördern und wird vom Verein "Gemeinsam Mensch", der insgesamt 90 behinderte und nicht behinderte Mitglieder hat und dessen Vorsitzende Donaubauer ist, an Schulen und Kindergärten in München und Umland angeboten. Im nächsten Jahr sind sie bereits an 28 Einrichtungen bestellt. Mit Erding habe man eine innige Kooperation. Das Projekt findet in diesem Jahr zum achten Mal am Anne-Frank-Gymnasium statt.

Es sei eine Bereicherung gewesen, sagt ein Schüler auf Donaubauers Frage, was ihm der Tag gebracht habe. Wenn er noch etwas übe, könne er nun einem behinderten Menschen helfen, wenn es einmal nötig sei.

© SZ vom 19.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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