Urteil in Erding:Freispruch trotz Geständnis

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Am Amtsgericht wurde der Fall verhandelt. (Foto: Renate Schmidt)

Ein gehörloser Mann, der sich an seiner Stieftochter vergangenen haben soll, kann nicht verurteilt werden. Die polizeiliche Vernehmung ist wegen Kommunikationspannen nicht verwertbar, die Aussage seiner Frau zu wenig.

Von Florian Tempel, Erding

Eigentlich hatte er die Taten gestanden. Der 35-jährige Angeklagte hatte es zuerst seiner Frau und drei Tage später bei der Polizei zweimal zugegeben: Ja, er habe seine Stieftochter irgendwann 2009 oder 2010 mindestens einmal im Schambereich angefasst. Und einige Monate danach habe er sich von dem damals fünf Jahre alten Mädchen über seine Unterhose streicheln lassen. Dennoch wurde der Mann vom Amtsgericht Erding vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs in zwei Fällen freigesprochen.

Mehrere Gründe machte eine Verurteilung für Richter Michael Lefkaditis unmöglich: Das Mädchen selbst konnte nicht aussagen, da es sich nach der langen Zeit nicht mehr an die angeklagten Vorfälle erinnern kann. Das im März 2011 abgelegte Geständnis bei der Polizei war nicht gerichtsverwertbar, da der Angeklagte gehörlos ist, aber ohne professionelle Dolmetscher vernommen und nicht korrekt über seine Rechte als Beschuldigter belehrt wurde. Allein das Geständnis gegenüber seiner mittlerweile von ihm geschiedenen Frau reichte Richter Lefkaditis nicht aus. Obwohl er "ihr vollumfänglich glaube", sei die Aussage der früheren Ehefrau zu wenig, um darauf eine Verurteilung zu stützen.

Der Angeklagte stammt aus Nordrhein-Westfalen und ist seit Geburt gehörlos. In seiner Kindheit wurde diese Behinderung zunächst vollkommen ignoriert. Er wurde in eine ganz normale Grundschule eingeschult und bekam dort vom Unterricht kaum etwas mit. Erst nach sechs verschenkten Schuljahren wechselte er, viel zu spät, in eine Schule für Hörgeschädigte. Der Angeklagte hat bis heute nicht richtig Lesen und Schreiben gelernt und beherrscht auch die Gebärdensprache nur auf einem mittleren Niveau. Nach seiner Schulentlassung blieb er bei seinem Vater wohnen - die Mutter war verstorben -, wo er zusammen mit zwei Schwestern sehr zurückgezogen lebte.

Der Mann wurde ohne Dolmetscher vernommen

Etwa vor zehn Jahren begann er eine Beziehung mit seiner späteren Frau. In den Jahren 2008 und 2009 besuchte sie ihn mehrmals mit ihrer kleinen Tochter im Haus seines Vaters. Als sie von ihm schwanger wurde, beschlossen sie zu heiraten und zogen gemeinsam nach Erding. Das Familienleben war jedoch bald so problematisch, dass das Jugendamt Erding sich einschaltete. Der Angeklagte zog aus und in eine Wohngruppe für Hörgeschädigte in der Nähe von Wasserburg ein.

Seine Stieftochter zeigte in dieser Zeit ein für ihr Alter auffälliges, sexualisiertes Verhalten. Im März 2011 fand ihre Mutter auf der Videokamera des Angeklagten Filme, die zeigten, wie das kleine Mädchen offenbar masturbierte. Die Mutter war sehr besorgt über diese Filme, fuhr zu ihrem Mann nach Wasserburg, konfrontierte ihn mit den Aufnahmen und stellte ihn zur Rede. Sie wollte wissen, warum er die Filme gemacht hatte, und vor allem, ob da noch mehr passiert sei. Nach anfänglichem Leugnen habe ihr Mann ihr dann die angeklagten Vorfälle gestanden.

In einer Vernehmung bei der Kripo drei Tage später wiederholte er sein Geständnis. Allerdings wurde er ohne professionellen Gebärden-Dolmetscher vernommen. Als Übersetzer fungierten die Leiterin der Wohngruppe, die nicht gehörlos ist, aber auch die Gebärdensprache nicht wirklich beherrscht, und eine gehörlose Betreuerin aus Wasserburg. Im Prozess räumten beide Frauen ein, dass sie die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung, dass ein Beschuldigter das Recht zu schweigen und auf einen Rechtsanwalt hat, dem Angeklagten wohl nicht korrekt mitgeteilt hatten. Damit war sein Geständnis juristisch wertlos.

Die Ex-Frau des Angeklagten beherrscht die Gebärdensprache auch nur im Ansatz. Die Verteidiger argumentierten deshalb, dass eine Kommunikation zwischen den Eheleuten nicht immer hundertprozentig sicher gewesen sein könne. Richter Lefkaditis glaubte zwar der Frau sehr wohl, dass ihr Mann ihr die sexuellen Handlungen mit ihrer Tochter gestanden hatte. Dennoch sei dieses Gespräch, das letztlich auf sehr wenigen Gebärden beruhte, eine zu dünne Grundlage für eine Verurteilung.

© SZ vom 19.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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