Erding:Flughafen überlastet Amtsgericht

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Passagierportale, die sich auf Entschädigungen bei Flugverspätungen spezialisiert haben, boomen. Die Fälle am Münchner Airport werden in Erding verhandelt, und sie nehmen enorm zu

Von Thomas Daller, Erding

Wird ein Flugannulliert oder verspätet sich um mehr als drei Stunden, steht Passagieren laut EU-Fluggastrechteverordnung eine Entschädigung zu. Je nach Flugdistanz sind das 250 bis 600 Euro. In vielen Fällen verweigern Fluggesellschaften Entschädigungszahlen. Darauf haben sich Unternehmen wie Claimflight, Flightright oder Fairplane spezialisiert, sie nehmen Passagieren das Prozessrisiko ab, boxen die Fälle vor Gericht durch und kassieren dafür 25 Prozent der erstrittenen Entschädigungen. Das Geschäft boomt von Jahr zu Jahr immer mehr. Zuständig für solche Streitfälle am Münchner Flughafen ist das Amtsgericht Erding. Die Zahl dieser zivilrechtlichen Auseinandersetzungen ist in den vergangenen Jahren explosionsartig gestiegen: von 5875 Verfahren im Jahr 2018 auf 8827 Verfahren im vergangenen Jahr. Eine Erhöhung um 50 Prozent innerhalb eines einzigen Jahres. Räumlich und personell ist das Amtsgericht an seinen Grenzen angelangt.

Ingrid Kaps, Direktorin des Amtsgerichts, hat am Freitag drei neue Richter vorgestellt, von denen einer dauerhaft, einer in Teilzeit und eine befristet am Amtsgericht arbeiten wird. Als Kaps vor sechs Jahren in Erding Direktorin wurde, waren sechs Richter dort beschäftigt. Mittlerweile sind es 19 und nach den hausinternen Berechnungen fehlen weitere zwölf, gemessen an der Zahl der Verfahren. Dieses Dutzend unterzubringen wäre jedoch angesichts der Raumkapazitäten völlig unmöglich; schon jetzt teilen sich bis zu drei Richter ein Büro.

Ohne diesen Berg von zivilrechtlichen Verfahren der Fluggastentschädigungen wäre das Amtsgericht Erding, trotz des großen Zuzugs in den Landkreis, kaum überlastet: Die Kriminalitätsrate ist niedrig, die Zahl der strafrechtlichen Verfahren bei Erwachsenen lag 2018 bei 2251 und 2019 bei 2245; also etwa gleich. Die Jugendstraftaten gehen sogar zurück, nicht nur im Landkreis Erding, sogar bundesweit ist das ein Trend: 2018 gab es 229 Jugendstrafsachen, 2019 waren es nur mehr 187. Bei den Jugendschöffengerichtsverfahren waren es 2018 insgesamt 45 und 2019 nur noch 35.

Aber bei den Fluggastentschädigungen geht die Entwicklung steil nach oben, "und die Prognose ist weiterhin steigend", sagte Kaps. "Wir haben ausgerechnet, dass wir jeden Monat 650 Verfahren haben", so die Amtsgerichtsdirektorin. "Aber schon im Januar 2020 waren es 1128. Das ist nicht mehr zu reduzieren."

Für die Anwaltschaft und die Portalbetreiber seien die Flugausfallverfahren eine "Gelddruckmaschine": "Das wächst und wächst und wächst." Sie sei froh um die neuen Richterstellen, aber die Belastung der Richter sei etwa 1,9 mal so hoch wie üblich: "Das ist das Doppelte, was zu leisten ist." Auch räumlich sei man an den Kapazitätsgrenzen angelangt: "Wir haben Doppel- und Dreifachzimmer für Richter, auch die Geschäftsstellen sind beengt und es ist kaum noch Platz für die Akten. Auf Dauer brauchen wir zusätzlichen Raum."

Drei reguläre und einen provisorischen Sitzungssaal gibt es im Amtsgericht, alle seien ausgebucht: "Wenn die Familienrichter nicht in ihren Zimmern verhandeln würden, ginge gar nichts mehr", sagte Kaps. Aber immerhin leide das Arbeitsklima nicht darunter: "Es ist sehr kuschelig, und ich bin glücklich, dass die Leute hier mit ungebrochener Motivation arbeiten. Aber dieser Brocken Zivilverfahren bereitet mir schlaflose Nächte."

Eine Konsolidierung dieser Verfahren auf hohem Niveau sei nicht abzusehen: Die Zahl der Flugbewegungen steige, und es werde den Flugpassagieren immer einfacher gemacht: "Man verkauft seinen Entschädigungsanspruch für 80 Prozent und hat das Geld sofort auf dem Konto." Auch das Verhalten mancher Airlines sei nicht nachvollziehbar: Sie würden oftmals die Entschädigung verweigern und sich dann im Verfahren gar nicht mehr melden. In einem solchen Versäumnisfall gelte die Entschädigung dann im Regelfall als zugestanden. Aber wenn so ein Entschädigungsverfahren ausgefochten werde, sei der Aufwand oftmals hoch: Dann werde beispielsweise ein Fachmann aus Dubai als Zeuge vorgeladen, der dann erkläre, warum die dortige Landebahn zum damaligen Termin nicht angeflogen werden konnte. Allein die Portokosten, um diese Verfahren zu gewährleisten, bezifferte Kaps auf bis zu 1000 Euro am Tag.

"Die Entwicklung hat uns überrollt", fasste Kaps die Situation zusammen. "Sie ist so rasant explodiert, wir kommen nicht mehr nach."

ERSCHIENEN IN DER SZ VOM 22. FEBRUAR 2020

© SZ vom 22.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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