Die Tafel Erding erlebt die Not an jedem Ausgabetag:"Die Miete macht arm"

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Eigentlich belegt der Landkreis Erding einen Spitzenplatz bei der Lebensqualität. Aber die Zahl derjenigen, denen das Geld nicht mehr reicht, nimmt weiter zu

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Vor Weihnachten strengt sich die Werbeindustrie doppelt an, schließlich müssen viele Sachen an den Mann, beziehungsweise an die Frau gebracht werden. Und es geht nicht nur um Geschenke, sondern auch um üppige, festliche Weihnachtsessen, sodass sich die Tische geradezu biegen. Doch immer mehr Menschen, auch in Erding, sind von dieser Welt ausgeschlossen. Ihre Nöte kreisen nicht darum, ob man Ente oder Gans isst, ob man jemanden beim Beschenken vergessen hat, sondern darum, ob man Weihnachten überhaupt genügend zum Essen hat. Und Geschenke sind oft selbst gebastelt oder müssen ganz ausfallen, weil einfach kein Geld zum Monatsende mehr da ist.

Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Erdinger Tafel sind diesen Menschen ganz nah. Am letzten Ausgabetag vor Weihnachten ist der Raum in der alten Post am Bahnhof proppenvoll. 161 Kunden werden gezählt, sonst sind es zwischen 120 und 130, sagt Petra Bauernfeind, die Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe Erding, die die Tafel betreibt. Zu jedem, der komme, müsse man aber eine weitere Person dazurechnen, die von der Hilfe lebe.

"Liebe Feen und liebe Wichtel der Tafel", hat eine ältere Dame auf eine Weihnachtskarte an das Tafelteam geschrieben und sich für den unermüdlichen Einsatz, die Hilfsbereitschaft und die Freundlichkeit der Mitarbeiter bedankt. Ein Einsatz, der nicht selbstverständlich sei und auch in schweren Zeiten nie aufgehört habe.

Die Mitarbeiter freut so eine Nachricht, denn vor Weihnachten kämpfen sie nicht nur gegen Armut an, sondern auch gegen die Werbeindustrie und den Kommerz im Allgemeinen. "Den Leuten wird doch vorgeführt, was es alles gibt, in den Schaufenstern liegt für viele purer Luxus, den sie sich nie leisten können werden. Und von den Kindern hören sie vielleicht, warum der Schulkamerad dieses oder jenes bekommt, aber man selber an Weihnachten vielleicht gar nichts", sagt die Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe. Das würde zu einer gewissen Anspruchshaltung auch gegenüber der Tafel führen, und mancher sei vielleicht enttäuscht, wenn er nicht das bekomme, was er sich wünscht. "Manchmal bekommen wir dann den Ärger und Frust ab, aber auch, wenn ein Mitarbeiter sich kurz darüber ärgert. Ich kann den Frust der Menschen nachvollziehen, und deshalb sind wir keinem wegen seiner Reaktion böse."

Zu Frust hat in diesem Jahr auch eine eigentlich gut gemeinte Aktion geführt: Die Stadt Erding hat zusammen mit dem Ardeo Netzwerk Erding zu Weihnachten wieder die Wunschstern-Aktion auf die Beine gestellt. Bürger können auf diese Weise Kindern aus finanziell schwachen Familien Weihnachtswünsche erfüllen. Verteilt wurden die Sterne samt Wunschzettel auch an Grundschulen, in Kindergärten und an die Tafel. 200 Sterne hatte die Tafel ausgegeben. Die Aktion beschäftigte die Mitarbeiter fast vier Wochen lang, da anhand der Kundenlisten und mittels Ausweisen bei jedem Wunschstern geprüft werden musste, ob das Kind unter zehn Jahren alt ist. Leider seien dann auf einigen Sternen nicht erfüllbare, teure Wünsche wie Laptop oder Handy gestanden. Und dann habe es noch eine Computerpanne gegeben, womit die Geschenke nicht mehr den Kunden zugeordnet werden konnten, sagt Petra Bauernfeind. Die Folge: enttäuschte Kinder und Eltern, die ihren Ärger bei den Tafelmitarbeitern abluden, wie in der Abschlussbesprechung manche Ehrenamtliche berichteten. "Die Betroffenen haben nicht verstanden, dass das keine Aktion der Tafel ist, sondern im Endeffekt eine Werbeaktion der Geschäftsleute, wenn sie auch gut gemeint war." Die Tafel helfe jedem Bedürftigen, was vor allem die Versorgung mit Lebensmitteln betreffe, aber sie könne nicht alle Wünsche erfüllen.

Ohne die Tafel am Erdinger Bahnhof wäre der Hunger für viele Menschen ihr täglicher Begleiter, weil das Geld für Lebensmittel fehlt. (Foto: Privat)

Ein Ranking des Magazins Focus hatte Ende 2016 dem Landkreis Erding den Spitzenplatz in Sachen "Sicherheit und Lebensqualität" unter allen 402 deutschen Kreisen und kreisfreien Städte bescheinigt. "Die Realität sieht anders aus", sagt Petra Bauernfeind. Wer am Leben aktiv teilnehmen wolle, zum Beispiel mit einem Kinobesuch oder Sport, müsse die notwendige finanzielle Ausstattung haben. Und die haben immer mehr nicht mehr. "Die Schere zwischen Habenden und Nichthabenden klafft immer weiter auseinander", sagt Bauernfeind.

Extrem sei dies im Landkreis beim Faktor Wohnen. "Ich kenne Kunden von uns, die leben in Wohnungen, die kann man sich gar nicht vorstellen, aber mehr können sich die Menschen nicht leisten. Sie sind froh, dass sie ein Dach über dem Kopf haben." Die Mieten würden immer mehr zu einem entscheidenden Kostenfaktor werden. "Die Miete macht arm", sagt eine Mitarbeiterin. Vor allem Kinder seien oft die Leidtragenden. Aber auch immer mehr ältere Menschen, vor allem Frauen oder Alleinerziehende.

Bei der Tafel seien zwar nicht sehr viele Rentner, aber das habe seinen Grund: "Viele nehmen diese Hilfe gar nicht in Anspruch, zum Teil, weil sie von einem Partner oder Kindern unterstützt werden oder weil sie ihren Stolz haben und es im Leben auch immer ohne Hilfe geschafft haben", sagt die Tafel-Vorsitzende. Schon der Gang zur Tafel für Lebensmittel erfordere Mut, sich die Not einzugestehen. Die Dunkelziffer der tatsächlich bedürftigen Rentner sei sehr hoch und werde steigen, ist sich Bauernfeind sicher.

471 Rentner bezogen demnach im vergangenen Jahr Sozialhilfe (Grundsicherung im Alter). Anfang 2012 waren es erst rund 350 Fälle. Der Grund: Die Rente reicht nicht mehr, um sich das Leben leisten zu können. Als armutsgefährdet gilt ein Rentner, wenn er weniger als 958 Euro monatlich zur Verfügung hat.

In einem Punkt muss Bauernfeind nicht nur ihre vielen ehrenamtlichen Helfer loben, sondern auch die Erdinger - Firmen wie Privatleute: "Wir bekommen das ganze Jahr über genügend Ware, aber zur Weihnachtszeit ist die Spendenbereitschaft besonders groß."

Sei es, dass Schulklassen Säckchen mit selbstgemachten Plätzen bringen, Firmen Duschgel oder T-Shirts spenden oder dass Leute zur Tafel mit einem vollgeladenen Auto kommen. Wobei man sich bei der Tafel vor allem über Sachen freut, die lange haltbar seien oder den Bedürftigen in ihrem Haushalt helfen.

Spezielle Geschenke von der Tafel über Lebensmittel hinaus hat es in diesem Jahr nicht gegeben, sagt Bauernfeind, auch, wenn die Lager sehr gut gefüllt seien durch die Spendenfreude. Und bei einem Punkt werde auch die Tafel nicht Abhilfe schaffen können, sagt Petra Bauernfeind: "Bei vielen wird das Weihnachtsfest nicht nur ohne Geschenke und ohne üppigem Essen sein, sondern vor allem einsam."

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© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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