Anfang als Seiltänzer:Tradition und Kult

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Die Schaustellerfamilie Rilke aus Wartenberg ist seit 67 Jahren auf dem Erdinger Herbstfest vertreten. Begonnen hat alles mit einer handbetriebenen Krinoline. Ihr 45 Jahre alter und immer wieder modernisierter Autoscooter ist ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt

Von Carolin Fraunhofer, Erding

Das Erdinger Herbstfest kann auf eine lange Tradition zurückblicken: Vor 201 Jahren, 1816, fand mit einer Landwirtschaftsausstellung das erste Volksfest statt. Zwar nicht ganz so lange, aber immerhin seit 67 Jahren ist die Familie Rilke dort. Die Schaustellerfamilie ist in diesem Jahr wieder mit dem Entenheben und dem Autoscooter vertreten. Letzterer hat in Erding längst schon Kultstatus erreicht.

Abends um 19 Uhr auf dem Erdinger Herbstfest. Die Musik tönt aus den Bierzelten und von den Fahrgeschäften. Die Besucher schieben sich an den Buden vorbei und die Karusselle sind in vollem Betrieb. Im Kassenhäuschen des Autoscooters läutet ein Telefon. "Hallo. Wer ist denn da?", fragt Lydia Rilke. "Ja holen's das ab bei mir." Das sei keine Seltenheit, berichtet die Seniorchefin. Andauernd bleibt was liegen, in den vergangenen Jahren wären es vor allem Handys gewesen, aber auch Geld finden die Mitarbeiter immer wieder.

Mittlerweile hat Tochter Gabi die Leitung übernommen, aber auch Mutter Lydia, 82, arbeitet kräftig mit und selbst Vater Günther setzt sich mit seinen 91 Jahren noch hin und wieder hinter die Kasse. Bereits sein Vater Oskar war vor ihnen mit einer Nagelbude am Erdinger Volksfest. "In Erding ist für uns besonders. Hier haben wir neue Fahrgeschäfte oft eingeweiht", erzählt Günther.

Angefangen hat das Ehepaar Lydia und Günther Rilke nach dem Zweiten Weltkrieg als Seiltänzer. Günther wäre für seine Akrobatik auf dem Seil sogar mit der Goldmedaille ausgezeichnet worden, erzählt seine Frau stolz. Durch die Akrobatikauftritte konnten sich die beiden die ersten Fahrgeschäfte und Buden leisten. Mit der Krinoline hat es angefangen. Das Geschäft war damals freilich noch nicht mit großen Musikboxen ausgestattet. Nein, damals gab es noch Livemusik. Und auch der Antrieb wurde mit Muskelkraft erzeugt. Drei bis fünf Männer hätten unter dem Karussell angeschoben, berichtet Lydia. Heute gibt es nur noch eine Krinoline. Am Oktoberfest in München kommt diese zum Einsatz. "Die wäre jetzt viel wert, aber wir haben sie damals verschrotten lassen", bedauert die Senior-Chefin.

Der Autoscooter Rilke ist das älteste Schausteller-Unternehmen auf dem Herbstfest Erding. (Foto: Stephan Görlich)

Ihre Schießbude damals hatten die Rilkes selbst gebaut. Später kamen viele weitere Fahrgeschäfte hinzu, wie etwa ein Kinderkarussell, eine Gokart-Bahn und die Fliegende Untertasse. "Wir sind damals mit unseren Fahrgeschäften bis nach Pirmasens und Heidelberg gefahren. Zwei Tage haben wir meist für die Fahrt gebraucht. Die Höchstgeschwindigkeit von unserer Zugmaschine lag bei 25 Kilometern pro Stunde." So beschwerlich haben es die Rilkes heute freilich nicht mehr. Trotzdem steckt in jedem Auf- und Abbau des 33 auf 15 Meter großen Autoscooters viel Arbeit und Schweiß. "Wir sind froh, dass wir unsere Jungs dabei haben, denn es ist gar nicht einfach gutes Personal zu finden." Zwei der drei Angestellten begleiten die Rilkes schon mehrere Jahre auf ihren Reisen in der Volksfestsaison.

In diesem Jahr neigt sich die Saison aber schon dem Ende zu. Noch einmal heißt es umziehen für den Autoscooter, vom Erdinger Herbstfest zum Volksfest nach Moosburg, bevor er in den wohl verdienten Winterschlaf gehen darf. Wobei auch das nicht ganz stimmt: "Im Winter wird renoviert und alles auf den neuesten Stand gebracht. Wir tauschen Teile aus oder bauen etwas um", erzählt die Junior-Chefin. Darum sei der 45 Jahre alte Autoscooter auch heute noch top modern.

Mittlerweile hat Tochter Gabi Rilke die Leitung des Autoscooters übernommen. (Foto: Stephan Görlich)

Schon damals waren die Rilkes ihrer Zeit voraus: "Wir hatten sozusagen die erste Mail-Box an unserem Autoscooter. Der war immer der Treffpunkt auf den Volksfesten", berichtet Lydia. Deshalb hätten sie eine Tafel an den Ecken des Autoscooters angebracht, über die sich die Volksfestbesucher verabreden konnten. "Am Ende des Tages oder besser der Nacht, haben wir auch oft da gestanden und gelesen, was unsere Gäste so geschrieben haben. Das war immer sehr nett", erinnert sich die Senior-Chefin. Mit den Handys heutzutage sei das natürlich hinfällig geworden.

Ihre Fahrgeschäfte stehen für Tradition und das wissen auch die Festzeltbesucher. Immer wieder kommen Gäste an die Kasse des Autoscooters und erkennen Lydia oder Günther. "Sie sitzen ja immer noch da", freuen sie sich und erzählen ihren Kindern, dass schon der Papa hier früher gefahren sei. Am Dienstag sei ein 98-jähriger Mann mit einem Gehstock an die Kasse gekommen und habe zwei Chips gekauft, berichtet Lydia. Zuletzt sei er 1938 auf dem Oktoberfest mit einem Autoscooter gefahren. Vielleicht auch das Geheimrezept der Rilkes: "Wenn er auf dem Volksfest ist, lebt er wieder auf", erzählt Lydia über ihren kaum jüngeren Ehemann.

Auch Mutter Lydia, 82, arbeitet kräftig mit und selbst Vater Günther setzt sich mit seinen 91 Jahren noch hin und wieder hinter die Kasse (Foto: Stephan Görlich)

Wobei die Rilkes im Laufe der Zeit ein eher umgekehrtes Phänomen beobachten: "Unser Klientel wird immer jünger." Die Kleinen haben keine Lust mehr auf Kinderkarussell, da müsse ganz schnell mehr Aktion her. "Unser jüngster Fahrer in diesem Jahr war fünfeinhalb Jahre alt. Da war ich selbst total überrascht, nachdem ich das erfahren habe", sagt Lydia.

"Ein Sechserpack Einwegrasierer. Das war das Skurrilste, das wir gefunden haben", lacht Lydia. Wenn die Leute etwas vermissen und sie es nicht gefunden hat, tut es der Senior-Chefin fast leid: "Für mich ist das das Salz in der Suppe. Die Freude, wenn ich den Leuten ihr Vermisstes wiedergeben kann."

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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