Alarmierende Entwicklung:Arm, alt und furchtsam

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Auch im Landkreis Erding wächst die Zahl der Senioren, denen das Geld zum Leben nicht reicht. Weil sie nicht jammern wollen, verzichten viele auf Hilfe. Experten rechnen mit weiter steigenden Zahlen

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Die Wirtschaft in der Region boomt. Von Jahr zu Jahren werden neue Rekorde vermeldet, auch für den Landkreis Erding. Die Arbeitslosenquote liegt bei 1,6 Prozent, es gibt so viel sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie noch nie im Landkreis, nämlich rund 44 000, und das verfügbare Einkommen steigt ebenfalls von Jahr zu Jahr. Zahlen, mit denen Wirtschaft und Politik gerne umgehen, die aber nur eine Seite der Medaille beleuchten. Auch im Landkreis Erding gibt es immer mehr Menschen, die am Wohlstand nicht teilhaben. Zum Beispiel ältere Menschen. 530 bezogen im vergangenen Jahr Sozialhilfe (Grundsicherung im Alter). Anfang 2012 waren es erst rund 350 Fälle. Der Grund: Die Rente reicht nicht mehr, um sich das Leben leisten zu können. Als armutsgefährdet gilt ein Rentner, wenn er weniger als 958 Euro monatlich zur Verfügung hat.

Aus einer Statistik der Deutschen Rentenversicherung geht hervor, dass die durchschnittliche Altersrente 2016 nicht einmal 860 Euro pro Monat betrug. Ein Großteil, unter anderem die Bezieher der Regelaltersrente und Frauen, bekamen im Durchschnitt sogar noch erheblich weniger, nämlich nur 665 Euro, während die Rente bei Männern bei 1096 Euro lag.

Barbara Gaab, die Kreisgeschäftsführerin der Caritas Erding, befürchtet einen weiteren Anstieg, und dabei würde man nur die Spitze des Eisberges bei der Caritas mitbekommen. "Viele ältere Menschen sagen sich, auch wenn sie nicht mit ihrem Geld über die Runden kommen: Ich bin ein Leben lang ohne fremde Hilfe ausgekommen. Deshalb melden sie sich auch nicht, obwohl sie einen gesetzlichen Anspruch hätten. Sie jammern nicht, das ist eine ganz andere Generation", sagt Gaab.

Ähnliche Erfahrungen hat Fritz Steinberger von der Awo Erding gemacht. Viele Rentner, insbesondere Alleinstehende oder Frauen seien betroffen. Auch wenn sie Ansprüche hätten, würden sie oft nicht gestellt. "Es ist einerseits ihr Stolz, dass sie es in ihrem ganzen Leben, in dem sie fleißig gearbeitet haben, alleine geschafft haben und dass sie das jetzt auch schaffen. Anderseits ist es die Furcht vor der Bürokratie und die Furcht, dass sie ihre eventuellen Notgroschen hergeben müssen, der sie zurück hält. Oder die Angst, dass ihnen der Vermieter ihre Wohnung kündigt, wenn er erfährt, dass das Sozialamt die Miete zahlt."

Alarm geschlagen hat deshalb vor Kurzem die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). "Zwar ist die Rentenkasse so gut gefüllt wie lange nicht, aber Geringverdiener profitieren kaum von der nächsten Erhöhung", sagt der NGG-Geschäftsführer Oberbayern, Georg Schneider. Gerade Frauen und Alleinerziehenden bleibe trotz vieler Arbeitsjahre der Gang zum Sozialamt häufig nicht erspart. Verschärfen dürfte sich die Lage in den nächsten zwei Jahrzehnten: Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung werde das Armutsrisiko besonders für die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre ansteigen - von aktuell 15 auf 20 Prozent im Jahr 2036.

Auch bei den Tafeln wird vor einer steigenden Altersarmut gewarnt. Nach Angaben des Bundesverbands der Tafeln in Deutschland hat sich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die auf die Ausgabe kostenloser Lebensmittel angewiesen sind, binnen zehn Jahren verdoppelt.

Auch bei der Tafel in Dorfen sieht man, dass immer mehr Rentner oder Menschen, die nach einer Krankheit nur eine Erwerbsminderungsrente beziehen, Hilfe zum Leben brauchen. "Allerdings haben wir nur leichte Steigerungen", sagt Martina Obermaier, die bei der Stadt Dorfen die Berechtigungsscheine ausstellt. Auch sie meint, dass es eine große Dunkelziffer gibt und dass die jetzige Situation nur mehr die "Ruhe vor dem Sturm" sei, der in zehn bis 15 Jahren erst richtig einsetze, weil dann noch mehr Menschen mit einem noch geringeren Rentenniveau aus dem Job ausscheiden würden.

Fritz Steinberger sieht deshalb akuten Handlungsbedarf. Zum Beispiel, indem man die Grundsicherung bei niedrigen Renten erhöht. "Aber nicht um den Betrag der normalen Rentenerhöhung, sondern es müsste schon eine große Kelle geschöpft werden, so um 75 bis 100 Euro".

© SZ vom 08.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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