369 Seiten umfasst der Entwurf:Eine Frage des Geldes

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Ewald Schurer, Gertrud Hanslmeier-Prockl, Rolf Schmachtenbeck, Josef Mederer und Johanna Wettengl sprechen in Steinhöring über das Teilhabegesetz. (Foto: Endt)

In Fendsbach und in Steinhöring diskutieren Betroffene mit SPD-Politikern über das geplante Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen. Die Unzufriedenheit ist groß

Von Anselm Schindler, Fendsbach/Steinhöring

Mit stolzem Blick zeigt Landwirt Michael Pirs auf die Rinder im Stall der Fendsbacher Werkstätten, "das sind meine", sagt er. Die Rinder lassen sich von dem Treiben im Stall nicht Ablenken, sie ignorieren den Besuch aus Berlin: Rolf Schmachtenberg ist der Architekt des neuen Bundesteilhabegesetzes und im Sozialministerium für die Ausgestaltung des Gesetzestextes zuständig. In Begleitung des SPD-Bundestagsabgeordneten Ewald Schurer ist er einen ganzen Tag in den Landkreisen Erding und Ebersberg und Erding, um den Menschen den Entwurf des Bundesteilhabegesetzes näher zu bringen. Er stößt nicht überall auf Gegenliebe, doch damit hat Schmachtenberg gerechnet. Er ist zu Gast in zwei Behinderten-Werkstätten des Einrichtungsverbundes Steinhöring, dann stellen sie sich in Steinhöring den Fragen des Publikums.

369 Seiten umfasst der Gesetzesentwurf, Ende April wurde er dem Bundestag vorgelegt. Prompt kam es zu Protesten von Menschen mit Behinderung, Unterstützern und Sozialverbänden. Vor dem Bundestag ketteten sich Rollstuhlfahrer an, auch in München gab es Proteste. Die Kritiker monieren, dass Kosteneinsparungen und die Verwertbarkeit von Arbeitsleistung im Vordergrund stünden, nicht aber die Selbstbestimmung und die Rechte von Menschen mit Behinderung.

Schmachtenberg kennt diese Vorwürfe. Er will mit den Menschen in Kontakt kommen, die vom Gesetz betroffen sein werden, wie Landwirt Michael Pirs, der von Geburt an behindert ist und im Fendsbacher Hof lebt. Auf die Betroffenen hat das Gesetz ganz konkrete Auswirkungen: Seinen Wohnort bestimmen zu können gehört zu diesen konkreten Dingen, genau wie der Kontostand behinderter Menschen. Schmachtenberg erläutert Sachzwänge, die Betroffenen kann er aber nicht beschwichtigen. "Da geht es nicht um Zahlen, sondern um Menschen", so formuliert es Gertrud Hanslmeier-Prockl, Leiterin der Steinhöringer Werkstätten. Sie ist den ganzen Tag mit von der Partie, am Nachmittag sitzt sie mit auf dem Podium.

Schmachtenberg verteidigt sein Gesetz, lobt die steigenden Freibeträge: Wer die sogenannte Eingliederungshilfe bezieht, also Hilfe bei der Aufnahme einer Arbeit, in der Mobilität oder für betreutes Wohnen, darf laut Gesetzentwurf von 2017 an einen Freibetrag von 25 000 Euro an Vermögen selbst behalten. Dieser Betrag wird nicht mit der Eingliederungshilfe verrechnet. Der Haken: Für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung gilt das nicht, für sie bleibt die alte Regelung, wonach große Teile des Vermögens auf die Sozialleistungen angerechnet werden. Dabei gilt ein Freibetrag von nur 2600 Euro. Geld für Urlaub oder Altersversorgung zu sparen, wird nahezu unmöglich.

Im Januar kommenden Jahres soll das neue Teilhabegesetz in Kraft treten, das plant Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD). Bis dahin hoffen Behindertenverbände, noch Änderungen zu erwirken. Im Publikum sitzt auch Renate Geifrig vom Verbund behinderter ArbeitgeberInnen (VbA) in München: "Wir haben uns von diesem Gesetz sehr viel versprochen", sagt Geifrig und beklagt, dass die Verbesserungen gerade für Menschen mit Behinderung, die Pflegeleistungen benötigen, nicht greifen.

Der Grundsatz, wonach eine ambulante Unterbringung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderung einer stationären Unterbringung vorzuziehen sei, sähen die Behindertenverbände durch das neue Gesetz bedroht, so Geifrig. Und tatsächlich: Das Wohnen in den eigenen vier Wänden ist nach dem neuen Teilhabegesetz künftig oft nur dann gestattet, wenn es günstiger ist oder ein Leben im Heim unzumutbar ist. "Das ist so nicht unser Gesetz", schimpft Geifrig. "Nicht mein Gesetz", dieser Spruch steht auch auf Oberteilen von Menschen im Publikum, es ist der Leitspruch derer geworden, die seit Monaten gegen das Teilhabegesetz aufbegehren.

Rolf Schmachtenberg bittet um Geduld, "auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut". Aus dem Publikum kommt wütendes Schnauben. Er müsse auch die Finanzierung im Auge behalten, rechtfertigt sich Schmachtenberg. Finanziert werden die Leistungen von Ländern und Kommunen. Schmachtenberg will den Forderungen der Betroffenen gerecht werden, anderseits muss er es auch den Kommunen recht machen. Doch Werkstättenleiterin Hanslmeier-Prockl ist das Gesetz zu sehr auf die Finanzierung ausgelegt, auch die Bürokratie koste viel Geld, schimpft sie.

Alle Hoffnungen sind jetzt auf den Bundesrat gerichtet. Den muss das Gesetz noch passieren, bis es 2017 in die Praxis umgesetzt werden kann. Im Bundesrat, sagt Rolf Schmachtenberg, seien dann noch Verbesserungen im Sinne der Betroffenen möglich.

© SZ vom 15.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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