Elend und Armut in München:Mittendrin und doch weit draußen

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München ist schön - für alle, die es sich leisten können. Man sieht die Armut nicht. Doch sie ist da, und nimmt ständig zu.

Julius Müller-Meiningen

Es ist ein Bild aus einer anderen Zeit, das Traudl Wanninger (Name geändert) um ihren Hals hängen hat und mit dem der Wind gerade spielt. Blondes, volles Haar, goldene Locken, ein etwas schüchternes, aber zukunftsfrohes Gesicht trägt sie da mit sich herum. So sah ein lustiges Münchner Kind in den sechziger Jahren aus.

Viele Arme betteln nicht: ihre Armut ist auf den ersten Blick nicht sichtbar (Foto: Foto: ddp)

Hebt man den Blick und sieht ihr in die grünen, inzwischen etwas trüben Augen, dann ist noch viel da von dem, was das Passfoto auf ihrem Ausweis für die Lebensmittelsausgabe ausstrahlt.

Ein freundliches, scheues Lächeln, der suchende Blick auf die großen runden Brotlaibe, die roten Cocktail-Tomaten und den grünen Lauch, der vor ihr in den Kisten liegt. Traudl Wanninger, heute 74 Jahre alt, hat frisches Gemüse immer schon geliebt. Nur, dass sie sich die guten Sachen nicht mehr leisten kann.

Armut - eine Sache der Definition

Sie gehört zu den Armen in dieser reichen Stadt. 177.000 Menschen sollen es der letzten städtischen Statistik, 2004, zufolge gewesen sein, die in München unter der Armutsgrenze lebten. Und es werden immer mehr. Jeder siebte Mensch ist heute arm in München.

Das ist, natürlich, eine Sache der Definition. Arm ist, wer weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Für Alleinstehende liegt die Grenze bei 776 Euro im Monat.

Traudl Wanninger lebt allein in Kleinhadern an der Grenze zu Laim, seit vor eineinviertel Jahren ihre 90-jährige Mutter starb. Eine Rente reicht nicht mehr. "666 Euro und 63 Cent im Monat - logisch is des wenig", sagt sie und streicht ihr gelbgrau gewordenes Haar zurück. Was ist mit der Sozialhilfe? Will sie nicht.

Morgens geht sie in die Messe, sie erledigt die Arbeiten im Haus, kocht ihr Gemüse, hilft, wo sie kann und geht spazieren. An der Isar kann man Traudl Wanninger treffen oder im Westpark.

Auf den ersten Blick unsichtbar

Aber man würde sie nicht erkennen als Zugehörige des sogenannten Prekariats, das seit vergangenem Jahr so viele Politiker und Sozialwissenschaftler beschäftigt. Sie trägt eine blaue Steppjacke, Hemd und eine saubere karierte Baumwollhose. Frau Wanninger lässt sich nicht gehen.

Und wie sie machen es viele in der Stadt. Man sieht sie nur nicht auf den ersten Blick. Seit dem Tod der Mutter holt Wanninger ihr Gemüse bei der Münchner Tafel, einer Einrichtung, die gespendete Lebensmittel kostenlos an Bedürftige verteilt.

Heute, es ist Dienstag, stehen die vier Transporter mit den Waren beim Kleinhaderner Gondrellplatz, gleich hinter der Lindauer Autobahn. 112 Menschen bilden eine lange Schlange mitten auf der kurzen Ludlstraße.

"Wir können uns vor Abnehmern nicht mehr retten", sagt Hannelore Kiethe, die Organisatorin und Vorsitzende des zugehörigen Vereins. Rentner mit geringem Auskommen, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, alle kommen sie. Die Wartelisten sind lang. An 21 Orten in der Stadt versorgt ihre Organisation insgesamt 15.000 Menschen in der Stadt.

Alles im Boden versenkt

Da steht ein unrasierter alter Mann im blauen Trenchcoat und einer Trainingshose, abgelaufene, einst feine Budapester Schuhe an den Füßen. "Sie sind wunderbar, Frau Hannelore", sagt er zur Organisatorin und lobt die Rindsrouladen, die es letzte Woche gab. "Verarmter pommerscher Adel, angenehm", sagt der Mann und trottet von dannen.

Beim Sprechen hat sich die obere seiner beiden Zahnreihen vom Kiefer gelöst. Vom Gondrellplatz kommend braust ein lauter roter Sportwagen an der Schlange der Wartenden vorbei. Auch die alleinerziehende Mutter, 36 Jahre alt, mit ihren zwei Kindern blickt sich um.

Noch vor kurzem hatte sie ein Haus, ein Pferd und einen Mann. Der hat aber "alles im Boden versenkt", wie sie erzählt. Alles ist weg. Jetzt sitzt sie da mit den zwei Kindern, dem Arbeitslosengeld und einer viertel Million Euro Schulden. Die Frau sagt, sie beginne jetzt wieder auf Kleinigkeiten zu achten und sich an ihnen zu freuen: "Eine Raupe auf dem Gehweg, ein paar Blütenknospen, so etwas."

Eine Kleinigkeit, das könnte auch ein Laib Brot sein. "Unser tägliches Brot gib uns heute, am Besten von der Hofpfisterei", steht auf einem Holzschild im Pfister-Restbrotladen in der Blumenstraße, gleich neben dem bunten und heiteren Treiben des Viktualienmarktes.

Arbeit statt Urlaub

Hier kostet der Zwei-Kilo-Laib vom Vortag nur einen Bruchteil des normalen Ladenpreises. Am Montagmorgen stehen hier 30 Leute. Ein paar, die es nötig haben, und viele, auch Wohlhabende, die sparen wollen.

Das tägliche Brot wird tiefgefroren, sagt einer. Der Schwabinger Schreiner hinter ihm, 71 Jahre alt, holt sich nur einen Laib. Er muss sparen, denn "alles wird teurer". Seit drei Jahrenreicht es für den Urlaub nicht mehr.

In den Urlaub zu fahren ist auch für die beiden jungen Männer, die am Mittwochmorgen vor dem flachen, grauen Bungalow der Zeitarbeitsvermittlung in der Schäftlarnstraße beim Großmarkt stehen, ein ferner Gedanke. Sie wollen arbeiten.

Robert aus Freising ist 20, hat eine Bäckerlehre gemacht, und weil es sechs Uhr früh ist und die Sonne noch nicht aufgegangen ist, hat er kleine müde Augen. Erkan, 17 Jahre alt, hat die Hauptschule abgebrochen und keinen Abschluss, einer von vielen in einer wachsenden Schar junger Hauptschul-Drop-outs mit Migrationshintergrund.

Glücklos am Großmarkt

Um die zwei Jungs herum stehen die Arbeitslosen, die schon Routine bei der Jobsuche haben, viele mit ausgemergelten Gesichter. Manche kommen schon seit 25 Jahren hierher, um für einen Tag eine Arbeit zu bekommen oder auch nicht. Baufirmen, Umzugsunternehmen, Großmarkthändler suchen manchmal Leute.

Wenn es funktioniert, gibt es acht Euro pro Stunde. Robert und Erkan sind zum ersten Mal zur Vermittlung gekommen. Es hat nicht geklappt. Alles hätten sie genommen, am Bau, am Großmarkt, überall. Aber die wenigen Angebote haben die anderen bekommen.

"Ich will nicht mehr leben", sagt Erkan und lächelt müde. Um sich über Wasser zu halten, werden die beiden wieder gebrauchte Tageskarten am S-Bahnhof sammeln und weiterverkaufen.

Am Marienplatz grast am Nachmittag ein älterer Mann die Mülleimer ab. Um ihn herum ein hektisches Treiben und eifriges Kaufen. Der Mann wühlt nicht, tippt nur leicht mit seiner Linken auf den oben aufliegenden Müll und schiebt ihn zur Seite. Sein unbemerkter Weg führt ihn ins Tal.

Das wohlhabende Lehel schläft

Er geht an einem Bettler, der einen Hundenapf vor sich aufgestellt hat, vorbei und sieht nicht, wie ein Jugendlicher ein Zwei-Cent-Stück mit aller Kraft in den Napf schleudert und dabei laut lacht.

Bei der McDonald's-Filiale verschwindet der Oberkörper des Mannes fast ganz im Mülleimer, er fischt eine Wasserflasche aus den Abfällen. Vor dem Supermarkt auf der anderen Straßenseite holt er noch ein paar leere Bierflaschen aus seinem Rucksack. Dann geht er hinein und legt sie in den Leergut-Automaten. 62 Cent bekommt er an der Kasse.

Leute wie er gehen auch zum monatlichen Obdachlosen-Brunch im Gemeindesaal der Lukaskirche. Das wohlhabende Lehel in seinen prächtigen Altbauten schläft an diesem sonnigen Märzmorgen noch und sieht nicht, wie sie sich laut rufend drängen vor dem Saal.

80 Menschen sind es, Rentner, Arbeitslose, Obdachlose, mehr Männer als Frauen. Alle wollen die warmen Tortellini, die die Helfer drinnen auf die Teller füllen. Alle bekommen einen Platz. Auch der Herr im Anzug mit Krawatte und dem schütteren, ungewaschenen Haar und die geschminkte ältere Dame, die später gierig ihren Teller abschlecken wird.

"Nicht nur schwarz sehen"

Herr Wolf (Name geändert), 68, freut sich, dass heute auch ein paar "gescheite Leute" da sind zum gepflegten Gespräch. "Wenn man nur schwarzsieht, wird's nix", sagt er. Herr Wolf wohnt in Neuhausen und ist ein kleiner Mann mit weißem kurzen Haar und runder Brille, dem der Schalk aus den Augen blitzt.

"Ich bin zu selbstbewusst, um mich zu schämen", sagt er und lacht. Seine Wohnung kostet 250 Euro Miete. Sozialamt kommt nicht in Frage, die 650 Euro Rente als ehemaliger Speditionskaufmann müssen reichen: "Metzger oder Kino - ist nicht drin."

Obwohl er große Lust hätte auf Salami und immer noch Cineast ist, nur halt einer, der nicht ins Kino gehen kann. Gesellschaft ist das Wichtigste, sagt er: "Die Leute gehen ja in der Bude kaputt und keiner merkt's."

"Irgendwie die Zeit tot machen", so beschreibt ein ehemaliger Obdachloser seine Tagesbeschäftigung. Er lebt jetzt im Männerwohnheim an der Pilgersheimerstraße, tagsüber sitzt er oft um die Ecke bei den Bahngleisen.

Juke-Box und billiges Bier

"Spazieren, spazieren, trinken, trinken", das ist sein Tagesablauf, wenn er nicht gerade bei einem der Ämter ist, um sich um eine Sozialwohnung zu kümmern oder um die 345 Euro Hartz-IV-Geld. Er meint: "Trotzdem ist das Leben schön."

Am Mittwochabend fiebert die ganze Stadt einem Fußballspiel entgegen. Der FC Bayern spielt gegen Real Madrid. Es geht um viel Geld und viele Leute haben teure Eintrittskarten gekauft. Das Stadion in Fröttmaning leuchtet rot.

Im Gondrellhof, einer einfachen, verrauchten Eckkneipe in Kleinhadern, gleich dort, wo neulich die Münchner Tafel zu Gast war, fiebern alle mit. Es gibt eine Juke-Box und billiges Bier. Fünfzehn Leute sind da, fast alle Männer. Am Ende gewinnt der FC Bayern, und alle 15 jubeln. Gewinnen ist einfach schön.

© SZ vom 10.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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