Ein Stricher erzählt.:"Freier wollen Frischfleisch"

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Mindestens 600 junge Männer gehen in München auf den Strich - der 29-jährige Stefan war einer von ihnen.

Von Bernd Kastner

Wie viele Männeraugen haben schon durch diese Scheiben gestarrt. Auf die goldenen Knöpfe des Jacketts, auf die Krawatten, die Hosen. Haben sie angeschaut, und doch nicht wahrgenommen, weil sie den Mann neben sich im Visier haben, ohne ihn anzuschauen. Die Klamotten im Schaufenster des Herrenausstatters sind die Dekoration, um sich anzunähern. Gezielt zufällig. Mann und Mann.

Eine Uhr hängt von der Decke, es ist vier Uhr nachmittags. Neonlampen leuchten, ohne Schatten zu werfen. Ein Ort ohne Konturen. Frauenabsätze machen klack, klack auf den grauen Steinplatten. Menschen mit Kaufhaustüten hasten durch, andere schlendern, ohne Tasche, ohne Eile, kommen immer wieder hier vorbei, an der öffentlichen Toilette. Es zieht sie rein, die Tür geht auf und zu, auf und zu. Klapp, klapp.

Untergeschoss einer U-Bahnstation. Ein Pfeil weist den Weg hinauf ins Helle. Unten, wo die Sonne nie hinkommt, schlendert Stefan vor den Auslagen. Auf und ab. Hin und her. Das Herrenhemd ist runtergesetzt - uninteressant. Blicke finden sich, flüchtig, verschämt. So ein Augenblick reicht nicht, Stefan wartet auf ein Lächeln.

Ein Lächeln ist das Zeichen des anderen. So wie sein Zeichen das Schlendern ist oder das Lehnen am Schaufenster, auf einem Bein, das zweite angewinkelt, Fuß am Fenster, cooler Blick. Klack, klack.

Ein Mann um die 60, stürmt aus der Toilette. "So eine Drecksau!" Es tobt in ihm. Seine fettigen Haare sind nach hinten gekämmt. Er bekam nicht, was er wollte, geht davon Richtung Treppe.

Stefan ist an seinem alten Arbeitsplatz, der Klappe mitten in der Stadt. Inzwischen sei er ausgestiegen. Wiederholt es, ist bemüht, abgeklärt zu wirken. "Ich bin nicht mehr drauf angewiesen." Er hat jetzt eine Wohnung und auch zu essen, die Sozialhilfe reiche zwar kaum, aber er habe sein Ziel erreicht, das der Start ins neue Leben sein soll. Er träumt vom Auswandern.

Stefan war Stricher. Berufsstart mit 15, heute ist er 29. Beim ersten Treffen, vor Monaten, hat er gefragt, wie das denn sei, er habe da ein Buch geschrieben, und ob man nicht einen Verlag wisse. 160 Seiten sind es inzwischen - okay, eher eine Stoffsammlung, aber wenn die zu einem Buch würde, das wäre was. Sein Werk! Auf der ersten Seite steht "Das totale Chaos". Die Überschrift, die Stefan seinem Leben gegeben hat. "Seit meiner Kindheit habe ich das Gefühl, von meinen Eltern nicht geliebt zu werden."

Er, aufgewachsen in Würzburg, berichtet, wie der Vater zuschlägt, mit der Hand und mit dem Teppichklopfer, der dieses Muster hinterlässt. Wie er auf der Sonderschule gegen seine Konzentrationsschwäche kämpft und verliert. Und wie er träumt, immer träumt, heute noch.

Es war Sommer damals, und er ist ins Freibad gegangen, 15 war er da. Sitzt am Beckenrand und starrt auf den Zehn-Meter-Turm. Plötzlich ein Mann neben ihm. Ob er sich was verdienen will, 30 Mark. Stefan weiß nicht, was das soll, aber er weiß, dass es viel Geld ist. Der Mann erklärt, was er will: Nur berühren, du mich, ich dich. 30 Mark! Stefan geht mit in die Kabine, dort bietet der Unbekannte einen Hunderter, wenn der Junge mehr macht. Doch Stefan hat Angst, der Typ könnte seinen Penis abbeißen. Nein! Der Mann akzeptiert, und Stefan kauft sich eine große Tüte Süßigkeiten von dem Geld.

An diesem Sommertag hat er eine Welt betreten, die an der Oberfläche der Stadt nur wahrgenommen wird, wenn in der Zeitung steht: Stricher tötet Freier. Oder wie vor zwei Jahren, als ein Stricher die kleine Anna vergewaltigte. Nur dann taucht diese Welt kurz aus dem bürgerlichen Untergrund auf.

Simone Ortner kennt viele dieser Geschichten von weit unten. Sie leitet "Marikas", die Beratungsstelle der Inneren Mission für Stricher. Die meisten der "Jungs", so nennt Ortner ihre Klienten, wurden von älteren Männern angesprochen, da waren sie noch Kinder. Auf dem Schulweg oder in den Kaufhäusern, wo die Kids an den Playstations die Nachmittage zubringen. Plötzlich lockt einer mit verdammt viel Geld.

An die 600 männliche Prostituierte gibt es schätzungsweise in München, immer mehr kommen aus Osteuropa, wo sich diese Verdienstmöglichkeit herumspricht. Das mache die Arbeit mit den Strichern nicht einfacher, sagt Ortner, allein wegen der Sprachbarriere. Die Sex-Arbeiter werden immer jünger, mit 30 ist man so gut wie raus aus dem Geschäft, Freier wollen "Frischfleisch".

Die Jungs ziehen von Stadt zu Stadt, leben oft auf der Straße und sind froh, mal eine Nacht bei einem Freier zu schlafen. Oder bei Marikas in der Dreimühlenstraße. Sieben Nächte pro Monat darf man dort wohnen. Marikas ist für die "Grundversorgung" da, fürs Ausschlafen, Duschen und Wäsche waschen.

Marikas, die einzige derartige Einrichtung in Bayern, ist eine Insel, auf der die Stricher durchatmen können. Und Fragen stellen im Gespräch mit einem der Sozialarbeiter. Da kommt raus, wie sehr sie ihren Job verachten und wie unsicher die Jungs sind, sagt Ortner. Wenn sie fragen, ob man sich in der Sauna mit Aids anstecken könne. Sie sprechen dann zusammen über Hygiene - und müssen beim Zähneputzen beginnen.

Stefans zweiter Freier heißt Manfred. Aus schneller Befriedigung wird eine Art Beziehung, man quatscht stundenlang miteinander, sitzt vor der Glotze, und vielleicht ist Manfred ein Vater-Ersatz für Stefan. Der Mann macht ihn mit der Szene vertraut, verrät, wo er Freier treffen kann, auf Klappen, am Bahnhof und in Kneipen. Erklärt, wie er ihre Blicke zu deuten hat. Da wohnt Stefan noch bei den Eltern.

Simone Ortner sagt, das sei oft so. Dass Freier nicht nur den Sex suchen, sondern jemand brauchen, um aus der Einsamkeit zu fliehen. Die meisten Freier sind 50 und älter, viele führen ein Doppelleben, haben Frau und Kind, oder stehen nicht offen zu ihrer Homosexualität. "Manche Freier tun mir leid", sagt Ortner. Auch sie haben den Faden in ihrem Leben verloren.

Mit 18 hält Stefan es nicht mehr aus zu Hause, flieht nach München, beginnt, vor der Klappe im Untergrund hin und her zu gehen. Auf und ab. "Heute gehe ich entspannt runter", sagt er, zieht an der Zigarette. Weil er ja nicht mehr anschaffe - "im Prinzip". Für Kippen hat damals oft das Geld nicht gereicht, nicht mal für 'ne Currywurst. Der knurrende Magen zog ihn nach unten, erst die Arbeit, dann die Mahlzeit. Neben dem Klo ist ein Imbiss-Stand, "Aus Liebe zum Besten" steht darüber. Der I-Punkt der "Liebe" ist ein rotes Herz.

Ein Fünfziger auf die Schnelle

Stefan ist also nach München gestürzt, und dort noch weiter nach unten. Keine Wohnung, kein Job, kein Geld. "Rumspielen auf'm Klo" bringt 'nen Fünfziger, und wenn er bei einem Freier übernachten kann, macht er's auch mal umsonst. Dann wieder Nächte auf der Straße, in der Sex-Kabine, in der Disco, bei der Heilsarmee. Depressionen quälen ihn, er denkt an Selbstmord.

Er findet Jobs, doch er hält nicht durch, schmeißt selber hin oder wird gefeuert. Schläft im Blumenladen eines Freundes und in einer stillgelegten Büro-Toilette. Für 232 Mark mietet er sich einen Lagercontainer in einem Industriegebiet, legt eine Matratze rein. Irgendwann heiratet Stefan eine Nepalesin. Es muss ein großes Glück gewesen sein, und ein kurzes. Er geht weiter anschaffen, sie weiß nichts, ahnt aber, dass er sie mit Männern betrüge. Mit Männern? "Ich bin hetero!"

Jetzt sind sie geschieden, und er träumt weiter von der Liebe und einer Frau und weiß, wie schwierig das ist für ihn sein wird. Manchmal wünscht er sich, schwul zu sein.

Simone Ortner sagt, dass sie bei Marikas niemand zum Ausstieg drängen. Das wäre kontraproduktiv, die Jungs würden nicht mehr kommen. Also machen sie Angebote, verteilen Kondome und reden, und nach und nach wird vielen klar, dass sie raus wollen, es aber nicht schaffen. Wenn das fest steht, helfen die Marikas-Leute bei der Suche nach einer Wohnung und nach einem Job.

Manchmal klappt es, wie bei Michael, 30, der als Stricher durch ganz Deutschland tingelte, der Pfarrer als Kunden hatte - und jetzt als Altenpfleger arbeitet.

Eine Stunde ist vergangen, Stefan wartet noch auf das Lächeln. Ein Stricher, Typ gut gebauter Südländer, höchstens 20, kommt zum x-ten Mal vorbei, schwingt lässig seine Schlüsselkette. Ein Freier, gute 50, gedrungen, Glatze, Bauch, rosa Hemd, streift herum.

Einen anderen, gleiche Statur, treibt's rein und raus, er verharrt minutenlang am Pissoir, schaut links, schaut rechts, doch die Blicke schweigen. Es stinkt, und die Tür macht klapp, klapp.

Dann das Lächeln. Für Stefan. Einer mit Schnauzer und weißen Socken wartet gegenüber den Auslagen. Der Mann habe zuerst das Übliche gewollt, für 50 Euro, erzählt Stefan später. Dann aber: Wie es denn sei, er hätte schon gerne mehr... - mit oder ohne? Stefan sagt, nur mit Gummi, da habe der andere gegrinst: Dann kannst es ja bei mir ohne machen.

Stefan sagt, das kenne er, Freier, die zwischendurch das riskante Spiel mit HIV spielen. Er selbst habe es ja auch so gemacht, als er Frauen bezahlt hat. In Thailand war das, vor Jahren, als die Prostituierte ihm versichert hat, dass sie es sonst nie ohne mache. Stefan vertraut seiner "Menschenkenntnis". "Man merkt ja, wenn man angelogen wird."

Das Geschäft mit dem Schnauzbartträger kommt nicht zustande, es war nur zur Demonstration gedacht. Später verabschiedet sich Stefan vor einer Kneipe im "rosa Viertel", wo man ins Gespräch und ins Geschäft kommt. Tags darauf ruft er noch mal an, wegen dieser Frage nach dem Ausstieg. "Wenn man drin ist, ist das wie eine Sucht." Er sei nicht mehr süchtig, aber es falle einem leicht, wieder reinzukommen, wenn man darauf angewiesen ist. Sind Sie es? "Ja", sagt er.

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