Wachsames Auge in der S-Bahn:Überzeugen statt Petzen

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Sie übernehmen Verantwortung für die Sicherheit an Bahnhöfen und in Zügen: 50 jugendliche Schülerbegleiter sind täglich im Landkreis unterwegs. Ihre Mitschüler schwärzen sie nicht an, sondern suchen Lösungen im direkten Kontakt

Christine Haimerl

Es ist ein warmer Frühlingsmorgen, die ersten Sonnenstrahlen blinzeln hinter der Wolkendecke hervor. Am Bahnhof in Tulling ist einiges los, obwohl es erst kurz vor sieben ist. Zwanzig Schüler warten auf den Filzenexpress aus Wasserburg, der sie nach Ebersberg bringen soll, wo sie die Schule besuchen. Manche sehen noch etwas verschlafen aus und gucken griesgrämig drein, andere sind schon fit und lenken ihre Klapproller auf dem Bahnsteig entlang. Der Zug fährt ein, wartende Kinder und Jugendliche schnappen Rucksäcke und hängen bunte Turnbeutel über die Schultern. Ganz am Ende der Plattform steht die fünfzehnjährige Patricia Lipp. Unter ihrem Arm hat sie einen limettengrünen Ordner geklemmt. Sie tritt einen Schritt nach vorne und wirft den Schülern einen prüfenden Blick zu. Alles ist ruhig, und als sich die Zugtüren öffnen, strömen sie geordnet hinein. Patricia nimmt ihre Mappe und setzt sich mit ihrem Klassenkameraden Sascha Ullmann auf einen Viererplatz in der Mitte des Zuges. Die beiden spähen durch die Reihen, doch auch hier scheint alles in Ordnung zu sein.

Patricia und Sascha, 16, sind zwei von insgesamt 50 Jugendlichen im Landkreis, die den offiziellen Titel "DB-Schülerbegleiter" tragen dürfen. Ihre Aufgabe ist es, vor und nach dem Unterricht die Sicherheit am Bahnsteig und in den Zügen zu gewährleisten. Seit eineinhalb Jahren schlichten die beiden Neuntklässler, die die Mittelschule in Ebersberg besuchen, Streitereien zwischen den Mitfahrenden und achten darauf, dass keiner die Züge verschmutzt. Zur Erkennung tragen sie ein knallrotes Poloshirt oder pinnen sich einen Button an die Jacke, auf dem ihr Motto "Überzeugen statt Petzen" geschrieben steht.

"Die Schülerbegleiter sollen andere ansprechen und sie auf die Folgen ihres Verhaltens hinweisen", erklärt Klaus Figur von der Deutschen Bahn. "Wir wollen nicht, dass die Schüler sich die Vergehen ihrer Klassenkameraden notieren und diese anschließend beim Lehrer anschwärzen." Figur hat das Projekt im Raum München im Jahr 2007 ins Leben gerufen.

Ein ähnliches Programm habe es damals schon in Bochum gegeben, sagt der gelernte Lokführer. Zusammen mit Psychologen habe er das Projekt speziell für die Münchner S-Bahnen weiterentwickelt. Zwanzig oberbayerische Schulen, sechs davon aus dem Landkreis, nehmen derzeit teil. Neben der Mittelschule Ebersberg werden am Gymnasium Grafing, der Realschule Ebersberg, dem Gymnasium Kirchseeon und dem Gymnasium und der Realschule Vaterstetten Schülerbegleiter ausgebildet. Ein Betreuungslehrer kümmert sich an jeder der beteiligten Schulen um die Jugendlichen und koordiniert ihren Dienst. An der Mittelschule Ebersberg hat diese Aufgabe Dorothea Görlitz übernommen. Die Lehrerin hält gemeinsam mit Klaus Figur Vorträge, um jüngeren Schülern einen Einblick in die Arbeit der Schülerbegleiter zu geben. Ab der achten Klasse können die Jugendlichen an einem Kurs teilnehmen.

Auch Patricia hat so von der Aktion erfahren. Zusammen mit 15 Klassenkameraden hat sich die Steinhöringerin im vergangenen Schuljahr ausbilden lassen. "Wir haben gelernt, wie der Bahnhof aufgebaut ist und an welchen Stellen Gefahren lauern", erzählt die 15-Jährige. In Rollenspielen hätten die Teilnehmer Konflikte nachgestellt, die sich in den Zügen besonders häufig ereignen. Gemeinsam mit den Trainern der S-Bahn und Beamten der Bundespolizei habe man während des 20-stündigen Trainings nach Lösungen für die Situationen gesucht.

Bei den richtigen Einsätzen ist alles ein bisschen schwieriger, sagt ihr Kollege Sascha. "Wir wissen ja nie genau, wie die Schüler reagieren, wenn wir sie ansprechen", erklärt der 16-Jährige. Deshalb müssten sie genau überlegen, ob es in einer Situation sinnvoll ist, einzugreifen. Die eigene Sicherheit gehe immer vor, betont Klaus Figur. "Damit die Schülerbegleiter im Notfall Hilfe holen können, sind sie außerdem immer im Team unterwegs." Heute haben Patricia und Sascha Glück.

Im Zug ist es ruhig und sie müssen nicht eingreifen. Als die Bahn in Steinhöring hält, wird es ein wenig lauter, denn 50 weitere Schüler steigen zu. Alle Sitzplätze sind belegt. Einige der Jugendlichen, die nicht im Mittelgang stehen wollen, hocken sich auf den Boden. Sascha steht auf und macht einen kurzen Kontrollgang. Auf der Hälfte des Weges trifft er seinen Klassenkameraden Christian Binder, der ebenfalls als Schülerbegleiter aktiv ist. "Hier ist alles in Ordnung", befinden die beiden.

Das ist nicht immer so. "Oft gibt es Gerangel um die besten Plätze im Zug", erzählt Christian. Schon auf dem Bahnsteig würden Schüler sich gegenseitig schubsen, um als Erste einsteigen zu können. Schülerbegleiter Sascha musste das am eigenen Leib erfahren. Er wurde vor einigen Jahren von anderen Jugendlichen auf die Gleise gestoßen. Glücklicherweise fuhr gerade kein Zug ein, denn Sascha verletzte sich bei seinem Sturz schwer. "Ich möchte verhindern, dass es wieder zu einem solchen Unfall kommt", sagt der 16-Jährige.

Gerade jüngere Schüler würden häufig die Gefahren am Bahnhof unterschätzen, sagt Klaus Figur. Wenn sie in der Gruppe unterwegs seien, verhielten die Jugendlichen sich oftmals ausgelassen und wollten anderen imponieren. Nicht selten komme es dabei zu Unfällen. Der zwölfjährige Max-André aus Tulling findet es gut, dass in seinem Zug Schülerbegleiter mitfahren, die das verhindern wollen. "Trotzdem nervt es ein bisschen, wenn die Älteren einen ermahnen." Lea aus Steinhöring hat hingegen Verständnis für die Begleiter. "Es ist doch klasse, wenn jemand sich für andere einsetzt und hilft, dass niemandem etwas passiert", sagt die 14-Jährige.

Der Filzenexpress hat mittlerweile den Ebersberger Bahnhof erreicht. Eilig strömen die Schüler aus dem Zug. Patricia, Sascha und Christian sehen sich noch einmal um und passen auf, damit niemand geschubst, gestoßen oder zur Seite gedrängt wird. Dann nehmen sie ihre roten Buttons ab und verstauen sie in den Taschen. Im nächsten Jahr machen die drei ihren Abschluss und werden nicht mehr täglich mit dem Filzenexpress in die Schule fahren. Doch Nachfolger gibt es bereits. Vor einigen Wochen haben die neuen Schülerbegleiter ihre Urkunden erhalten.

© SZ vom 27.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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