Ein Wallach kommt unters Messer:Schwere Patienten, sanfte Mediziner

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In der privaten Pferdeklinik in Wolfesing behandeln Veterinäre die kranken Tiere mit modernster Technik. Professionell und einfühlsam wählen sie die geeigneten Methoden. Die Grenze zur Humanmedizin ist dabei bisweilen fließend

Rita Baedeker

- Ein Pferd auf dem OP-Tisch ist ein erschreckender Anblick: Drei Beine ragen in die Luft, aufgehängt an einer Art Kran. Die Augen sind geöffnet. "Pferde schließen beim Schlafen ihre Augen nicht. Nicht mal, wenn sie tot sind", sagt die Tierärztin Wibke Walders, die während der gesamten Prozedur Blutdruck, Herzschlag und Sauerstoffzufuhr kontrolliert. Die Narkose hat bereits gewirkt. Es riecht nach Desinfektionsmittel und Stall. Eine sogenanntes "Maulgatter" verhindert, dass das Tier auf den Tubus beißt oder sich die Zunge verletzt. "Knabstrupper" lautet die Bezeichnung der dänischen Barock-Pferderasse, der dieses Pferd, das hier unters Messer kommt, angehört.

Vor dem Eingriff in der Pferdeklinik in Wolfesing (Landkreis Ebersberg) wird die zu operierende Stelle am Bein behutsam geschoren, desinfiziert und abgedeckt. Der Tierarzt Nils Adolphsen tastet die Fessel gründlich ab, bevor er zum Skalpell greift. "Da ist viel Galle drin", sagt er und meint damit Flüssigkeit, die sich entzündet hat. Seine bunte Haube erinnert mehr an einen Piraten als an einen Chirurgen.

Der OP-Tisch wird hochgefahren. Behutsam setzt der Doc einen Schnitt. Mit Kochsalzlösung wird die entzündete Flüssigkeit heraus gespült. "Hochgradig verdicktes und verklebtes Ringband", diagnostiziert Adolphsen. Ringband nennt man jenes Gewebe, das die Sehne in Position hält und das sich bei Pferden häufig entzündet. Dieses Band wird er durchtrennen. Nach dem Eingriff, der 45 Minuten dauert, wird die Wunde genäht. Nun ist es höchste Zeit, die Aufwachphase einzuleiten. "Es ist hochriskant, wenn 400 bis 800 Kilogramm Gewicht unkoordiniert aufstehen, da besteht die Gefahr eines Beinbruchs oder anderer Verletzungen", erklärt Wibke Walders. Um den empfindlichen Kopf des Patienten zu schützen, wird dem zehn Jahre alten Pferd eine Maske aufgesetzt, damit es sich nicht verletzt. Die Maske gibt ihm ein verwegenes Aussehen. Anschließend wird der Wallach mit einem Kran entlang einer Schiene in die mit Gummi ausgekleidete Aufwach-Box geschoben und sachte auf dem Boden abgelegt. Zur Unterstützung seiner Vital-Funktionen bekommt er eine Ladung Sauerstoff. Wenn der frisch Operierte zu sich kommt, sollte man außer Reichweite sein.

Operationen gehören in Wolfesing ebenso zum Alltag wie die Visite. Wie in jeder anderen Klinik versammeln sich auch hier Ärzte und Pfleger zum täglichen Rundgang. Nur ein Rudel Hunde haben die Menschenärzte für gewöhnlich nicht dabei. 50 Patienten sind derzeit auf Station. Zwei Rennpferde aus Polen treffen gerade ein. Die Krankenblätter unterm Arm, wandert der Trupp von Box zu Box. Eine Ärztin nennt die aktuelle Körpertemperatur - auch bei Pferden eine wichtige Größe, um zu beurteilen, wie es dem Patienten geht. Man begutachtet und diskutiert spezielle Therapien. Zur Wahl stehen nicht-invasive und invasive Verfahren - von der Chiropraktik bis zur Stoßwellentherapie, von der Lymphdrainage bis zur Stammzellentherapie und schließlich der Operation. Manchmal reichen Ruhe, ein Verband, eine Diät, manchmal ist der Genesungsprozess langwierig. "So lieb und so arm", lautet der einfühlsame Kommentar angesichts einer Stute, die an einer Pilzinfektion leidet. Das Auge ist zugeschwollen und stumpf. Die Ärzte Rüdiger Brems und Nils Adolphsen geben Anweisungen: ein Verbands- und Bandagenwechsel mit Wundkontrolle hier, eine Spritze dort. Bei einem weiteren Pferd wird angeordnet, dass es in nächster Zeit nur Schritt gehen darf, weil das Knie Ärger macht. Adolphsen bricht eine Karotte entzwei - das eine Stück verfüttert er, das andere isst er selber.

Die Patienten scheinen sich über die Abwechslung zu freuen, strecken die Köpfe aus ihrer Box, schnauben, wiehern, knabbern an Haaren und Jacken. Manchen Patienten sieht man es an, dass sie leiden. Zwar können Pferde nicht reden, doch ihr Körper spricht Bände: der gesenkte Kopf, das stumpfe Fell, die glanzlosen Augen. Besondere starke Schmerzen hat ein Pferd auszuhalten, das sich an einem Koppelzaun wund gerieben und die Haut so tief aufgerissen hat, dass das Gewebe eitert und abstirbt. In diesem Fall beschließen die Ärzte, auf die aktuelle, eigentlich für Menschen entwickelte Stammzellentherapie zu setzen und zu testen, wie gut sich dieses Verfahren hier für die Heilung eignet. Die ersten Erfahrungen seien ermutigend, sagt Rüdiger Brems. Aus dem Brustbein entnommenes Knochenmark könnte zum Beispiel bei Sehnenproblemen eine schnellere und bessere Heilung bewirken. Auf dem Weg zur letzten Box machen die Veterinäre ein ernstes Gesicht. Bei diesem Pferd helfen auch Stammzellen nicht. "Es leidet an einer schweren Stoffwechselerkrankung, der Cushing Disease", erklärt Adolphsen, ausgelöst durch einen Tumor an der Hirnanhangdrüse. "Eine Erkrankung, bei der man das Tier meist verliert."

Die Pferdeklinik in Wolfesing gibt es seit 23 Jahren. Am 1. April 1990 hat ihr Gründer, Rüdiger Brems, das erste Pferd operiert. Außer ihm, Adolphsen und Wolf-Dieter Wagner arbeiten acht weitere Tier- und Fachtierärzte in dem mit modernster medizinischer Diagnostik ausgestatteten Privat-Krankenhaus. Neben bekannten bildgebenden Verfahren wie Ultraschall, Nuklearmedizin, Röntgen, CT und anderen Techniken, legt man hier Pferden Belastungs-EKGs an, untersucht, ob sie lahmen, und analysiert ihr Blut. Auf jede denkbare Erkrankung ist man vorbereitet - und es ist für den Laien erstaunlich, woran Pferde leiden: Bänderzerrung, Schleimbeutelentzündung, Arthrose, Krebs, Koliken, Augenerkrankungen, sogar das metabolische Syndrom, das als Zivilisationskrankheit des Menschen gilt, gefährden die Gesundheit der zum Teil wertvollen Renn- und Turnierpferde, die aus aller Welt, aus den USA, Italien, sogar aus China, nach Wolfesing kommen und bisweilen ebenso strenge "Boxenruhe" brauchen wie der Mensch. Um zu testen, ob Sehnen und Gelenke gesund sind, wird gerade ein Brauner im Trab über den Hof geführt. Brems beobachtet den Gang des Tiers ganz genau. "Bei orthopädischen Erkrankungen ist schnelle Mobilisierung unser Ziel", sagt Brems.

Wie in einer Menschen-Klinik, gibt es auch in Wolfesing Ärzte für jeden Fachbereich. Einer der Veterinäre ist auf das Herz spezialisiert, eine andere Ärztin auf Lungenleiden. "Noch wichtiger als beim Humanmediziner ist es bei uns Tierärzten, bei der Diagnose auf die Hände zu vertrauen", sagt Brems. "Die Hände ertasten kleinste Schwellungen, auch ein geschultes Auge ist wichtig. Unsere Patienten können ja nicht sprechen." Ein weiteres Problem bei einem kranken oder frisch operierten Pferd: Man kann es nicht ins Bett legen oder auf die Intensivstation verfrachten. Manchmal ist nicht mal ein Transport in die Klinik möglich. In solchen Fällen werden die beiden mobilen Kliniken - zwei voll ausgerüstete Busse - eingesetzt.

Wie bei allen Lebewesen, gibt es auch unter den Pferden geduldige und weniger geduldige, ängstliche und aggressive Patienten. Das eine dreht fast durch angesichts der Spritze, die der Tierarzt aufzieht. Das nächste hebt ergeben den Fuß. Ein paar Streicheleinheiten genügen, um das Tier zu beruhigen. "Schwieriger als die Pferde sind meist die dazu gehörigen Menschen", sagt Brems und lacht. Ob vier- oder zweibeinig: Jeder Patient wird schneller gesund, wenn er Zuneigung und Fürsorge spürt.

© SZ vom 06.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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