Aktion "Kunststoff":Eintauchen ins Chaos

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Die Aktion "Kunststoff" verwandelt das Anzinger Loher-Haus und andere Ateliers im Landkreis in Werkstätten. Am Wochenende zeigen zwölf Künstler Malerei, Installationen, Fotoserien und Objekte.

Von Rita Baedeker

Die Schöpfungsgeschichte, wie Künstler sie erzählen, geht so: "Am Anfang war die weiße Leinwand und ein im Kopf erdachtes Bild . . . Vergiss es!" Sprüche wie dieser, aus dem Malkästchen geplaudert und auf Zettel geschrieben, kleben an einer Wand im Loher-Haus in Frotzhofen. Der beschauliche alte Hof verwandelt sich dieses Wochenende in eine Werkstatt. "Kunststoff" lautet der Titel der Ateliertage im Landkreisnorden, an denen zwölf bildende Künstler und Künstlerinnen in sieben Ateliers in Anzing, Parsdorf, Markt Schwaben und Poing teilnehmen. Organisatorin ist wieder die Poinger Malerin und Bildhauerin Inge Schmidt.

Den Werkstattcharakter zu unterstreichen, ist dieses Mal Ziel des Kunstwochenendes. Um einen möglichst lebensnahen Eindruck von ihrer Arbeit zu geben, haben Norbert Haberkorn und Johannes Mayrhofer das Loher-Haus mit Staffelei und kreativem Chaos möbliert - nach Aussage beider Künstler ist das Chaos jenes Element, das sie beide verbindet. Es herrscht ateliertypische Enge. "Mehr Ausgrabung als Ausstellung", erklärt Haberkorn lachend. Nicht der Kopf sei es, der den bildnerischen Prozess steuere, sondern die Hand, so beschreibt er seine spielerische Arbeitsweise. Der Anzinger Entwicklungsingenieur zeigt dadaistische Objekte, Installationen und Fotoserien. Haberkorn lässt sich ein auf den Moment, auf die sinnliche Erfahrung, auf gefundene Gegenstände - seien es die Schraubverschlüsse von Plastikflaschen, Holzstücke, Pappkarton, die Aufschlagseiten von Zeitungen oder Betonanker aus Riffelstahl, die er zusammen mit Holz zu mehrdimensionalen konstruktivistischen Skulpturen zusammensetzt.

Spielerisch und experimentell auch die Entstehungsgeschichte der Fotoserie, die er als S-Bahnpendler zwischen Poing und dem Münchner Hauptbahnhof produziert hat. Es sind Bilder eines Transitraums, von vielen Fahrgästen halb bewusst registriert. Beim Betrachten der Bilder blitzen eigene Erfahrungen im Kopf auf - Menschen, fahl vor Müdigkeit, in sich gekehrt, wartend. Der Transitraum der S-Bahn liegt im Nirgendwo der Ödnis von Brachen und Bauten, wie man sie in Ländern der Dritten Welt vermutet. Als Sammler des Augenblicks hat Haberkorn vorbei ziehende Schriften, Schilder und Botschaften dokumentiert. Etwa die Aufschrift "City Center Poing" am Bahnhof, der seit Jahren das "t" und das "o" fehlen. "Ich habe die Gemeinde darauf hingewiesen, aber man sagte mir, die Buchstaben zu ersetzen, sei zu teuer", wundert sich Haberkorn. Macht aber nichts, das Gehirn ergänzt die fehlenden Teile zu einem sinnvollen Ganzen.

Auch bei Johannes Mayrhofer steht zu Beginn des Schöpfungsprozesses kein fertiger Gedanke - außer bei Landschaftszeichnungen und Aquarellen zum Beispiel -, sondern die Weisheit der Hand. Der Ursprung eines Bildes, das sind aus Farbauftrag und Pinselduktus geborene Zufallsstrukturen, Muster, in denen das Gehirn zu lesen beginnt und nach deutbaren Formen sucht. Das können horizontale Verläufe sein, die an Erdschichten, Gesteinsadern und Felsformationen erinnern.

Seine fein komponierten Bilder sind zwar abstrakt, aber ein Eckchen ist jeweils reserviert für miniaturhafte Illusionsmalerei und kunsthistorische Zitate. Der Betrachter freut sich, wenn er die kleinen Welten entdeckt, den Spielzeugsoldaten, genannt "Chili-Gendarm", einen Heuschreck, ein Boot auf einem malerischen See. "Die Bildidee wird gespeist aus verschiedenen Quellen des Erlebens und des Erinnerns, auch aus Bildwelten vergangener Epochen", sagt Johannes Mayrhofer.

Quellen des Erlebens können akustischer Natur sein. Rosemarie Hingerl zum Beispiel, die am Osterfeld in Poing ausstellt, zeigt zwei Gemälde auf Leinwand mit eingearbeitetem Japanpapier - ein Hemd über einem langen Rock, mehr Büßergewand als Robe. Inspiriert zu dem Motiv habe sie die historische Aufnahme der Oper "Norma" von Vincenzo Bellini mit Maria Callas, einer Tragödie, in der sich die Titelheldin am Ende opfert. Die CD hat Hingerl mitgebracht. Mittels Kopfhörer kann der Besucher sich in das Werk vertiefen.

Auch Cornelia Propstmeier und Conny Boy sind mit ein paar Arbeiten vertreten. Die eine macht Unsichtbares sichtbar, indem sie unter dem Titel "Spuren" ein Gemälde partiell zudeckt, fragmentarisch wieder aufdeckt und so jeweils neue formale Zusammenhänge entdeckt. Mystisch wirkt auch die Farbfeldmalerei von Conny Boy. "Malen bedeutet , in eine andere Welt einzutauchen und in sich zu gehen, sich leiten zu lassen vom Wechsel mystischer Darstellungen, gegenständlicher Motive bis hin zur abstrakten Malerei", schreibt Boy im gemeinsamen Flyer.

Inge Schmidt wiederum hat Wolllust und Verletzlichkeit des weiblichen Körpers entdeckt. Ihr vollendetes, in Walnussholz geschnitztes Gesellenstück eines liegenden Akts zeigt sie mit Stolz. Bei einem Bildhauerlehrgang im Tessin hat sie eine weitere Plastik, das sinnliche Tonmodell "Giovana", in einen Alabasterblock übersetzt. "Das war harte Arbeit. Der Stein hat seine Eigenheiten entwickelt und sich von dem Modell entfernt", sagt Schmidt. Bei der Entwicklung der Figur habe sie sich an die Sage von Orpheus und Eurydike erinnert gefühlt. Eurydike, voller Liebe, Lust und Leidenschaft, löst sich am Ende auf. Und der Schöpfungsprozess beginnt von Neuem.

Die Ateliers der Aktion Kunststoff 2014 sind geöffnet: Samstag, 17. Mai, 14 bis 21 Uhr, Sonntag, 18. Mai, 13 bis 18 Uhr. Teilnehmer in Anzing: Johannes Mayrhofer und Norbert Haberkorn im Loher-Haus in Frotzhofen, Peter Böhm, Högerstraße 12, Siegfried Horst und Brigitte Stanke, Amselweg 17; in Parsdorf: Ulrike Pfeiffer und Christine Rath, Hartholzweg 14; in Markt Schwaben: Maria Heller und Marita Schreibmayr, Markgrafenweg 33; in Poing: Conny Boy, Cornelia Propstmeier, Rosemarie Hingerl und Inge Schmidt im Atelier Am Osterfeld, Kampenwandstraße 2, Karl Orth und Christine Seehafer, Eichenweg 4.

© SZ vom 17.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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