Die Stadt und ihr Fluss - Teil 9:Das Ochsenmaul und ein König ohne Unterleib

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Über 25 Isarbrücken musst du gehen: Münchens schönste Flussübergänge sind gut hundert Jahre alt, Probleme bereiten nur neuere Bauten.

Katharina Ziegler

36 Schuh breit ist der Abstand zwischen den Baumstämmen, die in den kiesigen Grund der Isar getrieben werden. 36 Schuh, das sind 9 Meter und 36 Zentimeter. Querhölzer verbinden die einzelnen Stämme, darüber liegen die Bohlen, 16 Schuh, gut viereinhalb Meter, breit. So beschreibt das Stadtrechtsbuch von 1347 die Isarbrücke in München, dort, wo heute die Ludwigsbrücke steht.

Eine Jugendstilbrücke für die Hauptstromleitung: der Kabelsteg an der Lukaskirche, auch bekannt als Mariannenkirche. (Foto: Foto: SZ / Heddergott)

Die Konstruktion ist alt und bewährt: Auf die gleiche Art baute Caesar seine Brücke über den Rhein. 1158 beginnt mit der ersten Isarbrücke, die Heinrich der Löwe bauen lässt, die Geschichte Münchens. An dieser Stelle, der heutigen Museumsinsel, die früher Kohleninsel hieß, führte lange, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, die einzige Münchner Brücke über die Isar. Heute gelangt man im Stadtgebiet auf insgesamt 25 Brücken von einem Ufer zum anderen.

"Die Reichenbachbrücke, die haben sie damals total verschandelt", sagt Annemarie Menke. Die promovierte Kunsthistorikerin, die für den Bayerischen Volksbildungsverband Führungen über die Münchner Isarbrücken anbietet, wird das an diesem Nachmittag noch öfter sagen, "verhunzt" oder "überhaupt nicht schön".

Wütend ist sie aber nicht auf Friedrich von Thiersch, den Architekten, unter dessen Leitung die Reichenbachbrücke 1902 gebaut wurde, oder auf die damalige Baufirma Sager und Woerner. "Ich finde diese Sechziger-Jahre-Versatzstücke, die man bei der Renovierung 1964 verwendet hat, einfach scheußlich", sagt Menke.

Von zwölf auf 18 Meter wurde damals die Fahrbahn verbreitert, und der breite Betonstreifen, den man schon von weitem sehen könne, der störe die Ästhetik erheblich, sagt Menke. Ganz zu schweigen vom Geländer: Statt der massiven Steinbrüstung wurden damals Stahlrohre montiert.

Preisbewusste Architektur

Was so schlimm daran ist? Dass sechs der Brücken in der Stadtmitte, neben der Reichenbach-, der Wittelsbacher- und der Corneliusbrücke die Maximilians-, die Prinzregenten- und die Max-Josephs-Brücke nämlich so etwas wie ein Gesamtkunstwerk ergäben, erklärt Menke: Alle wurden in der Zeit von 1901 bis 1905 gebaut, von zwei Architekten, Thiersch und Theodor Fischer, entworfen.

Die Konstruktionen waren so ähnlich, dass die Bauarbeiter von Sager und Woerner zum Teil dieselben Gerüste mehrmals verwenden konnten. "Das war preiswert gedacht", sagt Menke.

Bei einem Hochwasser im September 1899 hatte die Isar zwei Brücken mit sich gerissen: die eiserne Luitpold- und die Max-Josephs-Brücke. Deshalb beschloss der Magistrat ein Mammutbauprogramm: sechs Brücken in fünf Jahren. Samt und sonders handle es sich um "Dreigelenkbogenbrücken, manche mit aufgeständerter Fahrbahn", sagt Menke. Unterschiedlich lang und breit, aber doch füreinander komponiert: "Sie geben sich gegenseitig Halt und Gemeinsamkeit".

Ochsenmaul im Kabelsteg

Einige Ausnahmen in diesem Neubauprogramm gibt es: den Kabelsteg zum Beispiel. Er wurde schon 1898 errichtet, als eine der ersten Stahlbetonbrücken überhaupt, und verband das Muffatwerk am Isar-Ostufer mit der Stadt. Seit 1893 wurde hier der Münchner Strom erzeugt, erst nur für die Straßenbeleuchtung, später auch für die Trambahn. 1898 wurde das Werk erweitert: Eine Dampfmaschine musste her und, weil der Strom im Zentrum, auf der anderen Isar-Seite, gebraucht wurde, auch eine Brücke für die Stromleitungen: der Kabelsteg.

"Das ist eine meiner Lieblingsbrücken", sagt Annemarie Menke. Das große, ovale Loch im Mittelpfeiler, erklärt sie, heißt "Ochsenmaul" und ist typisch für die Architektur des Jugendstils - "wunderschön" und im übrigen überhaupt nicht zu vergleichen mit Betonplatten und Mäusezähnchen-Geländern aus den Sechziger Jahren.

Ein Stück weiter flussaufwärts geht es nicht um Schönheitspreise. Am Westufer der Isar dräuen die weißen Türme des Heizkraftwerks Süd an der Schäftlarner Straße wie eine Trutzburg in einem Fantasy-Roman. Von ganz fern nähert sich ein dumpfes Grollen, wenn die Güterzüge und Regionalbahnen auf der Braunauer Eisenbahnbrücke die Isar überqueren. Die Eisenbahnstrecke verbindet Haupt- und Ostbahnhof. Gleich nach der Eisenbahnbrücke zweigen Schienen ab: zum Schlachthof und zur Großmarkthalle.

König ohne Unterleib

Die Holzkonstruktion der Thalkirchner Brücke leidet unter dem Gewicht des Verkehrs. (Foto: Foto: SZ / Heddergott)

Auf Höhe der Braunauer Eisenbahnbrücke hat die Stadt "wertvolle Blumenwiesen gesät" - auf einem Schild bittet das Wasserwirtschaftsamt, vom Betreten des Uferbereichs abzusehen. Viele Trampelpfade ziehen sich durchs Gras. Auch unter der Brücke: hohes Verkehrsaufkommen. Nordic-Walker und Spaziergänger sind unterwegs. Jogger laufen in Richtung Brudermühlbrücke, wo das Grollen der Güterzüge kaum mehr zu hören ist: Unten rauscht die Isar, oben der Verkehr, sechsspurig.

Vom Märchenkönig ist nur der Kopf übrig geblieben. Bis zum Zweiten Weltkrieg zierte ein Pavillon mit einer Statue von Ferdinand von Miller die Corneliusbrücke: Ludwig II. in vollem Krönungsornat. Die Brücke war nach allgemeiner Meinung beim Bau zu schlicht geraten und wurde deshalb nachträglich durch die Terrasse an der Südseite aufgehübscht.

Im Zweiten Weltkrieg dann wurde das Standbild des Königs eingeschmolzen, aus Rohstoffmangel. "Nur den Kopf der Statue rettete man aus Pietät", schreibt Christoph Hackelsberger in seinem leider vergriffenen Buch "München und seine Isar-Brücken". Heute steht das Haupt des Königs wieder an seinem alten Platz - ein schwarzer Kopf auf einer dünnen, schlichten, hellbraunen Marmorsäule. Ein König ohne Unterleib.

Schwerverkehr über historische Holzkonstruktion

Ralf Wulf ist Abteilungsleiter Ingenieurbauwerke und Gewässer in der Hauptabteilung Tiefbau des Baureferats. Er ist verantwortlich für die Brücken der Stadt. Und zwar für alle. Denn: Die wenigsten der 273 Straßen- und 239 Fußgängerbrücken im Stadtgebiet führen über die Isar, die meisten aber über Straßen oder Schienenstrecken. Die DIN 1076 gebe vor, wie die Sicherheit der Brücken zu beobachten und zu begutachten sei, wann sie instandgesetzt oder erneuert werden müssten, erklärt er. Unter den Isarbrücken hat er ein Sorgenkind: die Thalkirchner Brücke.

Sie ist zwar die jüngste Isarbrücke, erst 1991 wurde sie fertiggestellt. Aber: Sie hat enorm unter der Verkehrsbelastung zu leiden. Maximal drei Tonnen dürfen die Autos wiegen, die über die Brücke am Tierpark fahren. Für mehr Gewicht ist die Holzfachwerkkonstruktion nicht ausgelegt. "Das war damals erklärter politischer Wille: Zum einen sollte die Brücke an die historische Holzkonstruktion erinnern, zum anderen sollte der Thalkirchner Platz vom Schwerverkehr entlastet werden", sagt Wulf.

So ganz habe das allerdings nicht funktioniert. "Ich habe auch schon einen vollbesetzten Reisebus drüberfahren sehen", empört er sich: "Manchen Leuten ist wirklich alles egal!"

Brücke unter Extrembelastung

Was also tun? "Quadratmeter große Schilder" sind schon aufgestellt. Höhenbegrenzungen oder Verkehrsinseln, alles überlegt, alles verworfen. Mit Videobeobachtung habe man es probiert, sagt Wulf. Auch das war schwierig: Wer sieht einem Transporter schon an, wie schwer er beladen ist?

Jetzt misst das Baureferat noch mal detailliert, mit Lasertechnik, wie sich die Brücke unter solchen Extrembelastungen verformt, wie sich die Streben aus Fichtenleimholz stauchen oder dehnen. Der TÜV Rheinland hat elektro-optische Messgeräte installiert und eine Monitoring-Station angebracht.

Drei Monate lang wird alles dokumentiert, dann müsse man überlegen, was man noch tun könne, sagt Wulf: "Der Ingenieur in mir hat mit einem solchen Bauwerk ein Problem. Ich muss ja die Sicherheit garantieren."

Was wohl schon zu Caesars Zeiten das Wichtigste an einer Brücke war.

© SZ vom 22.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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