Die Stadt und ihr Fluss - Teil 10:Weit weg und doch so nah

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Einst Klostergarten, dann Wirtshaus, Schnapsfabrik und Künstlerheimat - die Praterinsel ist mehr als ein großstädtisches Idyll. Kaum ein anderer Ort in München bietet soviel Kultur, Konsum und Naherholung auf engstem Raum.

Anne Goebel

Die Geschichte der Praterinsel beginnt, wie es sich für eine Insel gehört: mit einer Eroberung. Die Besitznahme erfolgte 1810, und man kann davon ausgehen, dass alles friedlich verlief. Gottergeben dürften die Franziskanerpatres ihr Eiland herausgerückt haben, die Säkularisation ließ ihnen keine Wahl. Und es war einer gekommen, der Geld hatte.

Flatz, der Bürgerschreck: Tradition und Provokation sind kein Widerspruch, zumindest nicht auf der schönsten Insel der Stadt. (Foto: Foto: SZ / Haas)

Okay, die 1300 Gulden waren auf Pump, aber Anton Gruber zahlte bar auf die Hand. Dem Wirt gefielen die grüne Insel in der Isar und die Idee, dass sich daraus Geld machen ließe. Genuss statt Gebet - Konquistation im Geist des irdischen Vergnügens. Statt frommer Gärtner aus dem nahe gelegenen Kloster, die in Frühbeeten Gemüse zogen, kamen nun die Leichtlebigen. Sie machten das Eiland zum Lustpark, tranken Grubers Bier und gaben dem Etablissement einen standesgemäßen Namen: Münchner Prater.

Wer heute vom Festland über das braunschmutzig sich dahinwälzende Hochwasser hinüberspaziert, muss kein Eroberer sein. Aber Respekt flößt das Getöse schon ein, mit dem der schäumende Fluss sich durch die Staustufe zwängt. Die heutige Praterwehrbrücke ist zum Glück ein solider Bau, im Unterschied zu den zerbrechlich wirkenden Stegen auf alten Darstellungen.

"Morgens schau' ich in die Isar und weiß, was los ist"

Rübermachen auf die Insel: Man kommt an, rundrum rauscht das Wasser, zwei Männer lockern auf einem Stück Wiese gemächlich das feuchte Heu. Im beschienenen Innenhof einer ehemaligen Likörfabrik sitzt eine Hand voll Sonnenhungriger auf eine Art vor den geleerten Milchkaffeetassen, als hätten sie sehr viel Zeit. Dazu lässt Marlene, die Wirtin aus Kapstadt, leise perlende Musik laufen. Ist das Einbildung, oder läuft hier alles um einen Gang zurückgeschaltet? Liegt es an der nachmittäglichen Auguststille - oder tatsächlich daran, dass die paar Meter Wasser wie ein Equalizer wirken, der den Großstadtlärm der Steinsdorfstraße umwandelt in gedämpftere Klänge, reduzierte Tempi?

Da hätte man dann, mitten in München, die Grundbeschaffenheit der Insel: ein Ort, wo alles gut wird, weil die Verbindung zu den Kompliziertheiten des Lebens gekappt ist.

"Des is' ned bloß Idylle", sagt Stefan Joven, einer der Männer mit dem Heu. Der Landschaftsarchitekt ist Mitarbeiter des Wasserwirtschaftsamts, das auf der Insel residiert, und gemeinsam mit einem Kollegen wendet er die Grasbüschel vor dem landhausartigen Amtsgebäude. Es sei gut, sagen sie, dass es unmittelbar am Ufer liegt. "Morgens schau' ich in die Isar und weiß, was los ist", sagt Rudolf Dapfer. Erhöhter Pegel, gesunkener Wasserstand, es genügt ein Kontrollblick aus dem Fenster.

Hier die Insel, dort die Stadt

Die wildromantische Insellage sehen sie pragmatisch: Standortvorteil, mehr nicht, ein Büro in der Stadt würde die Arbeit erschweren. Dapfer sagt "in der Stadt", als läge die Boutiquenmeile Maximilianstraße nicht in direkter Nachbarschaft, als donnere der Verkehr nicht eine Brückenlänge entfernt über den Asphalt. In der Stadt gäbe es auch kein Eichhörnchen, das jetzt in einem Haselstrauch anfängt, Nüsse zu knacken. Dapfer deutet auf einen überwucherten Stein, unter dem habe mal eine Ente gebrütet hat. Und das soll kein idyllischer Ort sein, kein Refugium, das nach Sommerfrische riecht? Na gut, sagt er, "ist schon ein Biotop".

Hier die Insel, dort die Stadt: So reden sie alle auf dem ehemaligen Mönchseiland. Dabei ist es zum Marienplatz gerade mal ein knapper Kilometer Luftlinie. Als Nutzgarten der Franziskanermönche lagen die Kieselstrände außerhalb des Stadtgebiets, zu Grubers Zeiten war ein Tag im Prater mit Tanz und Bier noch ein echter Ausflug ins Grüne. Das Gefühl, die Stadt zu verlassen, hat sich gehalten.

"Wir sitzen seit zehn Jahren auf der Insel", sagt beispielsweise Walter Bickel, Senior Partner der "Internationalen Unternehmer-Beratung Droege und Comp", Adresse: Praterinsel 3-4. Aus seinem "Wir sitzen auf" kann man eine winzige Nuance Konquistadorenstolz heraushören. Ist ja auch ein schöner Coup gewesen, als die Firma mit Dependancen in New York, Schanghai, Luzern bei der Suche nach einem standesgemäßen Münchner Quartier die edlen Büros in dem soeben sanierten Industriebau einer ehemaligen Likörfabrik auftat.

Der legendäre Escorial

Der Unternehmer Anton Riemerschmid ließ, nachdem Grubers Geschäfte nicht mehr liefen, auf dessen Gelände seit 1869 die Schlote rauchen: Allerlei alkoholisches Gebräu wurde hier bis 1984 fabriziert, darunter der berüchtigte, dem Vernehmen nach absinthähnliche Likör "Escorial grün" - irgendwie die logische Folgenutzung einer Vergnügungsinsel. Heute also bitten hier Droege und Compagnie zu Bankenpool-Sitzungen in die Designersessel.

Die Kunden, sagt Bickel und führt auf die geräumige Terrasse, fänden die Insel wahnsinnig aufregend. "Eine Inspiration, gerade bei schwierigen Restrukturierungsmaßnahmen." Im Gang hängen Baselitze im Original, unten stehen stets frisch polierte Karossen. Ein paar davon gehören zum Nachbarn im selben Haus, die Patentanwalts-Sozietät Grünecker, Kinkeldey, Stockmair & Schwanhäusser ist eine der größten Europas. Hier, am Westufer, ist der feine Salon der Insel.

Heidrun Waadt sitzt sozusagen im Hinterhof. Es ist kühl und feucht in ihrem Atelier, eine der 19 Werkstätten im ehemaligen Fabrikbau, die das "Aktionsforum Praterinsel" an Künstler vermietet. Aus den Decken quillt Isolierwatte, die Holzböden sind abgewetzt, aber die Miete, sagt Waadt, sei in Ordnung. Immerhin gebe es seit einigen Jahren Heizungen, früher habe man sich mit Gaskartuschen beholfen.

Anton Gruber, Prater-Wirt im 19. Jahrhundert. (Foto: Foto: SZ / Haas)

Sie schätzt es, im Zentrum und doch nicht in der Stadt zu sein, und wenn sie mal wieder "stundenlang herumgebrütet hat" an ihren Video- und Computerarbeiten, geht sie runter an die weißen Kieselbänke und hängt die Füße ins Wasser, um den Kopf frei zu kriegen. Ein paar Türen und einen sich jäh öffnenden Fenstersturz weiter (mit waghalsig platziertem Stuhl fürs Sonnenbad hoch über der Isar) arbeitet der Holzbildhauer Werner Mally an seinen formstrengen Skulpturen.

Wundertüte Prater

Im Moment zeugen nur Späne am Boden vom Schaffen des mehrfach preisgekrönten Künstlers, auch das benachbarte Atelier eines Mailänder Stipendiaten ist verwaist, trotzdem weht hier ein Hauch von Hinterhof-Bohème durch den Gang mit der möglicherweise unfreiwilligen Installation aus leeren Pils-Kästen. "Klar, wir sind hier für das Flair zuständig. Alles bisschen marode, wahnsinnig künstlerisch, und nachts strahlen sie das Atelierhaus mit Spots an. So eine Kulisse gefällt den Kunden", sagt Björn Hausner. Der Videokünstler teilt sich die Werkstatt mit Heidrun Waadt, und abgesehen von der kulturpessimistischen Selbsteinschätzung als Kulisse liebt er seinen Arbeitsplatz mit Blick in die Kronen prächtiger alter Kastanien. "Die Insel ist wie ein Hinterhof, in den man hinein geht - und es macht sich was auf."

Wundertüte Prater: Tatsächlich gibt es kaum einen anderen Ort in der Stadt mit soviel Kultur, Konsum und Naherholung auf engstem Raum. Am Südzipfel der Insel, wo einst das Weinlokal "Isarlust" stand, offeriert das Alpine Museum imaginäre Hochtouren, im Norden stehen die Fischer im flachen Wasser, dazwischen die ehemals Nackerten-Strände. Am Westufer High End-Geschäfte, im Osten ein wenig Prenlzberg. Hausner hat recht, genau das schätzt die Kundschaft des "Aktionsforums", welches nicht bloß günstige Ateliers, sondern vor allem blendend weiß sanierte und nicht ganz so erschwingliche Gewölbe vermietet.

Die Likörfabrik als Location, wo früher Fässer lagerten - hier hat schon Ottmar Hitzfeld Geburtstag gefeiert und Andre Agassi Parfum beworben. Wenn ein Unternehmen mit einer edlen Präsentation was hermachen will, wird die Insel immer gern genommen; als der norwegische Kronprinz Haakon München besuchte, bat man die geladenen Gäste zum royalen Seafood-Lunch in die Orangerie. "Wir haben eine Alleinstellung in München", sagt Gerhard Guntermann, technischer Leiter des Aktionsforums, während im Innenhof gerade dreihundert Rosen sortiert werden für die abends bevorstehende persische Hochzeit.

Rumba unterm Sternenhimmel

Alleinstellung heißt: Auch in derzeit eher konjunkturschwachen Zeiten ist der Prater recht gut gebucht, wer beispielsweise 3000 Euro übrig und für einen Abend das Zollgewölbe im Sinn hat - sorry, erst nächstes Jahr wieder. Bei den Tango-Abenden oder Salsa-Nächten kommt auch der Münchner mit monatlichem Durchschnittsbudget in den Genuss des Inselflairs. Rumba unterm Sternenhimmel auf "Munichs Island of Art", so wirbt das Forum im Netz - wäre bloß der Sommer nicht so ins Wasser gefallen, denn die galaktisch illuminierte Insel ist ein schöner Ort für irgendwie losgelöstes Feiern. Liegt es vielleicht daran, dass die Luft hier immer noch geschwängert ist von Riemerschmidts hochprozentigen Geheimrezepturen?

Einer, der ohnehin immer ein bisschen über den Dingen schwebt, ist Flatz. Der kahlrasierte, stets silberberingte Künstler aus Vorarlberg, hat hier seit 16 Jahren sein Atelier, und von der Terrasse (samt Kastanie, in der mal sein berühmter goldener Wohnwagen thronte) hat Flatz die Insel im Blick. Wie ein Küster sieht er, was unten los ist, ob sich jemand an seinem mit Kunstdreck verkrusteten Jeep namens "Dirty Harry" zu schaffen macht oder am meterlangen schwarzdüsteren Oldtimer "Galaxy". Flatz, der Konzeptkünstler, der Akademieprofessor mit Faible für körperliche Grenzerfahrungen, hält die Insel selbstverständlich für "total kommerzialisiert". Klar, das ist Ehrensache, als Provokateur und Bürgerschreck. Übrigens, Haakon sei damals auf eine Zigarette zu ihm raufgekommen, total netter Typ.

Im Grunde ist aber der grüne Prater mit den Kieselgestaden, an denen die Münchner sich ihre Bräune holen und Obdachlose ihre Ruhe haben, mit den piekfeinen Herren Unternehmensberatern, den betuchten Brautgesellschaften, experimentellen Künstlern und den durchtanzten Nächten doch ein Ort, den der aus Überzeugung emigrierte Österreicher ziemlich gerne hat.

Abgesehen davon nämlich, dass die Insel noch viele Geschichten hergäbe: Von der Wirtin Marlene Du Plessis aus Kapstadt, die in der "Kantine" am Isarstrand ihre ganze Sehnsucht nach den Stränden Südafrikas in exotische Straußenfilets und Krokodilpaté hineinkocht; vom Forstbeamten Manfred Kubbutat, der seit 40 Jahren mit Frau und Hund am Wehr wohnt und ohne das Wasserrauschen nicht mehr einschlafen kann; vom rückwärts gelegenen, verwilderten Garten des Alpinen Museums, in dem Kinder ein Stück Huckleberry Finn-Freiheit finden. Abgesehen davon macht Flatz dem umspülten Universum sowas wie eine Liebeserklärung. "Es kam vor, dass ich die Insel eine Woche nicht verlassen hab'. Dann spürst die Stadt nicht mehr."

© SZ vom 26.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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