Die Stadt und ihr Fluss - Teil 1:Wildes Wasser, in den Bergen gezähmt

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Der Sylvensteinspeicher verhindert Überschwemmungen durch die Isar - auch die Renaturierung im Stadtgebiet dient der Sicherheit. Die Flut von 1999 gilt als warnendes Beispiel. (Dieser Text erschien am 4.8.2005, kurz bevor das jüngste Hochwasser München erreichte).

Michael Ruhland

Isar und Gefahr? 45 Jahre lang war der Fluss ausschließlich ein Quell der Freude für München. Grüne Lunge. Insel der Erholung. Spaßbringer. 45 Jahre ohne überflutete Straßen und Häuser, ohne Schlamm, Schlick und fauligem Gestank in Wohnungen, wie beim Hochwasser 1954. Was sollte schon groß passieren, wo es doch seit '59 einen Stausee in den Bergen gibt?

Das Isar-Hochwasser an Pfingsten 1999 wäre für München eine riesen Gefahr gewesen, wenn es den Sylvensteinspeicher nicht gegeben hätte. Danach kam auch der Isar-Plan erst richtig in Schwung. (Foto: Foto: SZ / Heddergott)

Am Pfingstwochenende 1999 änderte sich die Stimmung schlagartig. Die Isar schwoll bedrohlich an, und die Nerven lagen blank. "Uns wollte die Polizei von der Praterinsel evakuieren", erzählt Stephan Kirner, Abteilungsleiter für den "Isarplan" im Wasserwirtschaftsamt München. Man habe die Beamten, sagt Kirner, mit dem Argument beruhigen können, dass die Mitarbeiter "selbst wissen, wann sie gehen müssen".

Der Bauingenieur gehört zu den wenigen Menschen, die der Pfingstflut etwas Positives abgewinnen. "Es war ein Schuss vor den Bug. Nach dem Hochwasser kann ich Planungen auf den Tisch legen und bekomme sie auch durch", sagt er. Kirner weiß, wie zäh es werden kann, wenn mehrere staatliche Ebenen ein Großprojekt in Angriff nehmen, das zudem von diversen Interessensgruppen misstrauisch beäugt wird. In den 80-er Jahren initiierte der Freistaat unter Mitwirkung der Stadt "eine sehr große Umbaumaßnahme der Isar zum Hochwasserschutz". Doch so richtig in Fahrt kam der "Isarplan" erst nach dem Hochwasser 1999.

Einstürzende Brücke

Für Erich Winner haben die Schlagzeilen auch sechs Jahre nach der großen Flut nichts an Reiz verloren. "Der Damm hat uns gerettet" und "Kritiker der Dammerhöhung lagen falsch", titelten die Regionalzeitungen im Oberland an Pfingsten 1999. Nun muss man wissen, dass der Diplom-Ingenieur eher ein kühler Rechner denn ein Mann der großen Worte ist. Beim Gesprächstermin im Weilheimer Wasserwirtschaftsamt lässt Winner lieber Bilder und Grafiken sprechen und beschränkt sich bei der Powerpoint-Präsentation auf knappe Kommentare. "Den Katastrophentourismus haben wir heute noch", sagt er beispielsweise trocken, als auf der Leinwand ein historischer Stich aus dem Jahr 1813 erscheint.

Zu sehen ist eine steinerne Isarbrücke in München, die unter der Gewalt der anbrandenden Fluten einstürzt - am Ufer stehen Schaulustige, die den Todeskampf der Ertrinkenden begaffen. 200 Menschen starben damals in der Isar.

Erich Winner ist der Mann, der dafür gerade steht, dass sich solche Katastrophen nicht mehr wiederholen. Deshalb sind die Schlagzeilen aus dem Jahr 1999 immer noch eine Genugtuung für ihn. Er hat sie ausgeschnitten und eingescannt. Und nun prangen sie an der Wand wie in Stein gemeißelte Mahnmale. Winner ist Betriebsbeauftragter für den Sylvensteinspeicher - ihm ist die hitzige Debatte um die Erhöhung des Staudammes noch im Ohr, als hätte sie voriges Jahr stattgefunden. "In der Planungsphase, Ende der achtziger Jahre, waren alle Städte und Gemeinden dagegen", sagt er. Obwohl keinerlei Kosten auf sie zukamen - den Ausbau des Speichers finanzierte das Land Bayern.

Die Pläne des Freistaates fielen in die Hochzeit der grünen Bewegung, die Öko-Welle schwappte über das Land und mit ihr drohte manchmal auch die Vernunft unterzugehen. 1989, sagt Winner, gipfelten die Diskussionsbeiträge von Naturschutzorganisationen in der Forderung, den Sylvensteinspeicher wieder zu entfernen.

Der Damm verhinderte viel Leid

",Der Wildfluss Isar wäre viel besser', hieß es damals", erinnert sich Winner. Der Herr über den Speichersee präsentiert eine Grafik, die die ganze segensreiche Wirkung des Sylvensteinsees für die Isar-Gemeinden zusammenfasst. In einer Zeitreihe sind die Pegelstände von Bad Tölz und München über ein Jahrhundert aufgezeichnet, Ausschläge in den dunkelvioletten Bereich stehen für Hochwasserschäden.

1940 beispielsweise oder 1954 erwischte es Tölz und München schwer, von 1959 an, nach der Fertigstellung des Stausees, gibt es keine großen Ausschläge mehr. "Seit der Sylvensteinspeicher existiert, waren wir nie im roten Bereich", bekräftigt Winner.

Man könnte nun sicherlich Berechnungen anstellen, wie viel Leid der Damm wohl verhinderte, wie viele persönliche Schicksale er indirekt positiv beeinflusste, wie viele Millionen Euro Schaden er vermeiden konnte. Erich Winner belässt es bei einem Beispiel, weil darin die ganze Bedeutung des Bauwerks kulminiert: Bei der Pfingstflut 1999 flossen in München zu den Spitzenzeiten 800 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch die Isar, ohne die gerade fertiggestellte Dammerhöhung wären es 950 gewesen. 900 war zu der Zeit die kritische Grenze in München, das heißt: Das Deutsche Museum, die Praterinsel und andere flussnahe Gebäude wären überschwemmt worden.

Eindrucksvoller ist jedoch eine Zahl, die sich ergibt, wäre der Damm nie gebaut worden: 1550 Kubikmeter Wasser pro Sekunde hätten sich durch München gewälzt, mehr als je in der Landeshauptstadt gemessen worden ist. "Das reicht, um die Frösche ins P 1 zu treiben und zu Schumann's an die Pforte", scherzt Peter Frei, früherer Pressesprecher des Umweltministeriums und seit zwei Jahren Leiter des Wasserwirtschaftsamtes Weilheim.

Die Katastrophe konnten die Männer um Erich Winner nur verhindern, indem sie den Speicher zum Zeitpunkt des größten Zuflusses von bis zu 920 Kubikmeter pro Sekunde für zwölf Stunden fast komplett zumachten. "Wir hatten die neue Kronenmauer gerade fertig, und der Speicher war randvoll", sagt Winner, der damals bange Stunden durchlebte. "Zum Glück war die Vorhersage relativ gut", lobt er den deutschen Wetterdienst. Aufgrund des vorhergesagten Niederschlags, der Schneelage, Schneefallgrenze und der Wassersättigung des Bodens hatten die Hydrologen einen Zulauf von bis zu 1000 Kubikmetern pro Sekunde vorausberechnet, 920 waren es tatsächlich.

Das Hochwasser verursachte in Bayern nach Angaben des Umweltministeriums Schäden in Höhe von rund 380 Millionen Euro, Statistikern zufolge ist mit einer solchen Flut höchstens alle 200 Jahre zu rechnen. Der Schock bewirkte eine Zäsur. Man darf den staatlichen Hochwasserschutz seither getrost in "vor 1999" und "nach 1999" einteilen. Der Freistaat rief ein "Aktionsprogramm 2020" ins Leben und verpflichtete sich, jährlich 115 Millionen Euro für Hochwasserschutz auszugeben. Dazu gehören so genannte regionale Hochwasservorhersagezentralen (HVZ) (siehe Interview). Die "HVZ Isar" hat ihren Sitz am Wasserwirtschaftsamt Weilheim. "Es geht darum, die Vorwarnzeiten zu verlängern", erklärt Amtschef Frei. "Früher lagerten die Kohlen im Keller, heute ist die Sauna unten und jede Menge technischer Krempel." Dafür riskierten Hausbesitzer oft leichtsinnig ihr Leben, "wenn sie in letzter Minute noch in den Keller rennen", ergänzt Natalie Stahl.

Die Diplom-Umweltwissenschaftlerin leitet die HVZ Isar und arbeitet eng mit dem Deutschen Wetterdienst zusammen. Auf einem der Monitore im Besprechungsraum, in dem im Ernstfall der Krisenstab tagt, zeichnet sich über Holland ein Wolkenband mit dunkelvioletten Zellen ab. "Da geht was ab", sagt Stahl. Violett heißt ergiebiger Niederschlag. Früher wurde von der Hochwassernachrichtenzentrale München aus nur das Gebiet südlich der Landeshauptstadt in ein Vorhersagemodell einbezogen, inzwischen wird das gesamte Einzugsgebiet der Isar untersucht, 8000 Quadratkilometer groß, von der Quelle im Karwendel nahe Scharnitz bis zur Mündung in die Donau bei Deggendorf.

Hochwasservorhersagezentralen sind eine Art Horchposten, und ihre computergestützten Berechnungen werden umso genauer, je mehr sie mit verlässlichen Daten gefüttert werden. Im Internet kann inzwischen jeder Bürger die Messwerte aller 606 Pegel in Bayern verfolgen (www.hnd.bayern.de), sie werden viermal täglich aktualisiert. Bei Hochwasser kommen die Wasserstandswerte stündlich neu ins Netz.

"Für München können wir gute Vorhersagen machen", sagt Stahl. Die Durchflusswerte von annähernd 30 Pegeln am Oberlauf von Isar und Loisach lassen erkennen, was auf München zukommt. Schwieriger wird es, je kleiner die Flusssysteme sind und je weiter man in Bergregionen kommt. "Man kann halt schlecht vorhersehen, ob sich die Wolken vor oder erst hinter dem Berg abregnen", seufzt Stahl. Hinter dem Berg kann aber bedeuten, dass die Niederschläge in einem anderen Flusssystem landen. Dann verhagelt es die Vorhersagen.

Warten auf die Flut

In München rüstet man sich unterdessen für das, was Statistiker das "200-jährige Hochwasser" nennen, also durchschnittlich einmal in 200 Jahren auftritt. Im Jahr 2000 begannen die Bauarbeiten, bis 2008, schätzt Kirner, ist die Isar-Renaturierung fertig - wobei die ökologische Aufwertung und die neuen Erholungsflächen an der Isar eher "Abfallprodukte" des Hochwasserschutzes sind. Doch das hört Klaus Arzet, Leiter des Wasserwirtschaftsamtes München, nicht so gerne. Schließlich werde für die drei Ziele des Isarplanes gleich viel ausgegeben. Insgesamt kostet der Umbau 28 Millionen Euro, 15 sind Arzet zufolge schon ausgegeben. Der Rest ist für den Abschnitt Braunauer Eisenbahnbrücke bis zum Deutschen Museum reserviert.

Fest steht, dass die Isar dann etwa 1100 Kubikmeter Wasser pro Sekunde "verträgt", ohne über die Ufer zu treten. Bislang waren es 900. Weil die Deiche an vielen Stellen mit altem Baumbestand bewachsen sind (Arzet: "Normalerweise haben Bäume auf Deichen nichts verloren") und man den bei einer Erhöhung der Deichkrone hätte opfern müssen, entschied man sich für einen anderen Weg: Das Bett der Isar wird verbreitert, sie kann im Falle eines Hochwassers mehr Wasser transportieren, weil dort die Fließgeschwindigkeit doppelt so hoch ist wie auf den überschwemmten Wiesen.

Waren das so genannte Mittelwasserbett bislang etwa 50 Meter und die Isarwiesen 100 breit, wurde das Bett nun auf 80 bis 90 Meter ausgeweitet, die Wiesen sind dementsprechend schmaler. Von der Großhesseloher bis zur Braunauer Eisenbahnbrücke wurde das Ufer im Zuge des Umbaus naturnäher gestaltet. Sand- und Kiesbänke entstanden, was nicht nur für die Tier- und Pflanzenwelt neue Lebensräume bringt.

"Die Kinder brauchen keinen Joystick mehr, die finden wieder was zum Spielen", sagt Stephan Kirner. Was sich auch nach dem jüngsten, kleinen Hochwasser bestätigt hat. Wer isaraufwärts wandert, entdeckt angeschwemmte Baumstämme, kleine Tümpel, Kies- und Sandbänke. Und fühlt sich plötzlich fern der Großstadtwelt. Ein bisschen wie an einem Wildfluss.

© SZ vom 4.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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