Die neuen Hochhäuser:Leben im Schatten der Türme

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Die Menschen in der "Alten Heide" haben zwei neue Sonnenuhren bekommen: Die Highlight-Towers verändern Vieles im Norden der Stadt.

Von Bernd Kastner

Vielleicht werden sie bald die Uhr nach ihnen stellen. Es ist Mitte November, und um 14.21 Uhr ist der Schatten bei Hausnummer 3 der Hannes-Meyer-Straße angekommen. Später wird er weiter gen Osten kriechen, über die Autobahn hinüber und hinein in die Siedlung. Zwei-, dreihundert Meter weiter südlich steht diese gigantische Sonnenuhr, ihre Erbauer nennen sie Highlight-Towers. Die beiden Doppeltürme hinterlassen im Viertel dahinter, in der halb fertigen Parkstadt Schwabing und in der Alten Heide, ihre Spuren. Licht und Schatten.

Die Highlight Towers in der Alten Heide (Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Jenseits der A9 steht Alfred Retz in seinem Edeka-Laden, seit 33 Jahren ist das so. Ja, ja, die Türme. Der Mann im weißen Kittel lacht und spricht von seinen "zwei Seelen". Einerseits, sagt er, "schaut es nicht schön aus", das Hochhaus. Wenn man von Schwabing aus raus fährt - gräuslich! Kommt man aber von der anderen Richtung, "dann macht es schon was her." Und man dürfe ja nicht grundsätzlich gegen alles Neue sein.

Aber wie sie ausschauen ist für ihn gar nicht das Entscheidende. Es geht um seine Zukunft, und die wird von den gerade gewachsenen Zwillingen mitbestimmt. Nächstes Jahr wird Retz 58. Er wird wohl seinen Laden zusperren müssen.

Die Uhr steht jetzt auf Nummer 4 der Kohlrauschstraße. Halb vier. Wäre man oben, im 33. Stock, man würde die Berge bestaunen und nicht nach hinten schauen auf den Schatten, der in der Grüneckerstraße weit nach Norden reicht zu dieser Jahreszeit. 126 Meter Hochhaus machen an die 500 Meter Schatten.

Hier, denkt man, hat Kronawitters Anti-Turm-Truppe mindestens 99 Prozent Anhänger, alle werden sie dem Alt-Oberbürgermeister am Sonntag beim Bürgerentscheid ihre Stimme geben. "Nicht schön", hat Christina Zickler neulich gesagt, es war ein nasser, ekelhafter Tag, und die zwei Scheiben haben sich im grauen Himmel versteckt. Nicht schön findet sie das Ding, das von der kleinen Grünanlage neben dem Schulhaus wirkt wie eine karierte Wand, 33 mal 52 gibt 1.716 Fenster.

Der Turm, sagt Frau Zickler, nehme einem Sicht und Licht. Zu Frankfurt passe das, sie muss es wissen, denn sie kommt von dort, aber doch nicht zu München. "Hässlich", sagt Frank Tanzer, 38. "Das Haus hat keine Form, keinen Stil." Und wieder ist Frankfurt die Bezugsgröße. "So was brauchen wir nicht in München. Auch wenn manche sagen, das ist provinziell. Aber das ist München." Wenn ringsrum lauter Hochhäuser stünden, meint Tanzer, - kein Problem. Aber im Viertel hat nun mal kein Haus mehr als zwei Etagen plus Dach.

Er meint den ältesten Teil der Alten Heide, die heute eingeklemmt ist zwischen Mittlerem Ring und Autobahn. Nach dem Ersten Weltkrieg haben sie in fünf Jahren die Siedlung hingestellt, es herrschte akute Wohnungsnot, und viele Eisenbahner und Arbeiter von Krauss-Maffei waren froh. Als Mustersiedlung hat man das von Theodor Fischer geplante Quartier damals gepriesen. Eine Innovation war es, weil man nicht die üblichen Mietskasernen mit muffigen Hinterhöfen gebaut hat, sondern Häuser im Zeilenbau, erstmals überhaupt. Kleine Wohnungen zwar, "aber von Tageslicht durchflutet", wie Karin Lutzenberger in ihrer Chronik der Alten Heide schreibt.

Lichtdurchflutet. Und jetzt der Schatten.

Doch wenn man sich umhört im Viertel, gewiss nicht repräsentativ, dann jammern die Leute gar nicht groß über den Schatten, der, das muss man sagen, natürlich nur einem kleinen Teil der gut 5000 Siedlungsbewohner die Wohnung verdunkelt. Nur Kenan Lalic, Student aus Sarajevo, der gerade Prospekte der Turmbauer austrägt, berichtet von der Hausmeisterin in seinem Wohnheim, die über die weggesperrte Sonne klage. Ansonsten sagen die Leute die gleichen Sätze, die man auch weitab der Türme hören würde. Und es ist beileibe nicht nur negativ, viele zucken die Schultern: "Mich stört's nicht." Oder: "Die Autobahn ist viel schlimmer."

"Tut das denn weh?" Carl Wimmer, 62, meint den Anblick der Häuser. Er führt seinen Hund Gassi und ist gar nicht gut auf die Turm-Gegner zu sprechen. "Soll München ewig so altmodisch bleiben?" Er schimpft über das Denken in dieser Stadt: "Die sollen mal nach Amerika gehen." Ein paar Meter weiter hat Dimitris Kokkalis gerade die Haustür aufgesperrt. Der junge Mann wohnt am Ende der Guerickestraße, wo nur noch die Grünanlage und die Autobahn kommen. Und dann die Karo-Scheibe, die von hier gar nicht dünn wirkt. "Super", sagt er. Ohne Ironie. Wenn man den Turm so hinter den Bäumen aufragen sehe - "einfach super!"

Wirtschaftsfaktor Hochhaus

Es ist kalt, aber in der "Alten Heide" ist's warm. Die Wirtschaft heißt wie das Viertel, hier gibt es Mittagsmenü für viervierzig, und Wirtin Sonja Baum sagt: "Ich hab keine Probleme mit dem Hochhaus." Erstens wohnt sie weit weg, zweitens sieht sie die Türme nicht vom Wirtshaus aus, und drittens: Da drin werden bald sehr viele Menschen arbeiten, die irgendwann Hunger kriegen. Und sie hat was gegen Hunger. Also überlegt sie, die seit 18 Jahren hier arbeitet und seit Juni die "Alte Heide" führt, wie sie am besten Werbung machen kann für ihre "Fünf Nürnberger Rostbratwürstl auf Sauerkraut, mit Kartoffelbrei" zum Beispiel.

Alfred Retz ist die Hoffnung auf klingende Kassen durch die 10.000 neuen Büro-Menschen und 2.700 Einwohner, welche die Parkstadt dereinst haben wird, abhanden gekommen. "Ich hoffe sehr, aber ich glaube es nicht." Weil sie drüben zwei Supermärkte bauen, die viel größer sind als seine 150 Quadratmeter. "Da wird's mich derbröseln." Vor ein paar Jahren hat er auch noch mit einem Boom in seinem kleinen Lebensmittelladen gerechnet, hat eigens einen Raum zusätzlich angemietet. Jetzt aber ist er sich fast sicher, dass nächstes Jahr Schluss sein wird. Rente. "Ich habe Angst vor dem Tag, an dem wir aufhören müssen." Zu verwachsen sei er mit der Siedlung, auch wenn er auswärts wohne.

Als er anfing in den 70ern, da waren es neun Lebensmittelgeschäfte im Viertel, heute sind es noch zwei. "Den Kleinsten hat's immer erwischt, und jetzt bin ich der Kleinste." Ein wenig hofft er noch, überlegt, ob er über die Mittagszeit auflassen soll, vielleicht kommen ja doch ein paar rüber für ein schnelles Essen. Aber er glaubt nicht, dass "die besseren Leut", die mit den Krawatten, die aus den Türmen, zu ihm kommen werden. "Die gehen doch ins Bistro."

Ein Scherz der Sonne

Draußen, im kalten Schatten der Türme, funkelt plötzlich doch die Sonne. Man stutzt und denkt an die leeren Büros in der ganzen Stadt, und dass viele Leute in der Siedlung zwar nichts gegen die Türme haben, aber gesagt haben: Sie sollen Wohnungen bauen, und nicht noch mehr leere Büros. Und die 73.000 Quadratmeter im Turm sind so leer, dass sogar die Sonne... Nein, kann nicht sein. Zum einen ist er noch nicht ganz fertig, so dass auch Star-Mieter Roland Berger noch nicht drin sein kann. Außerdem erlaubt sich die Sonne einen Scherz. Ihre Strahlen spielen Ping-Pong. Kommen aus Südwest, spiegeln sich innen am Ostturm, prallen von dort auf den Westturm und weiter in die Alte Heide. Und dort blendet im Schatten die Sonne. Vielleicht haben die Architekturkritiker, die Helmut Jahn und seine Doppelscheiben preisen, nicht ganz Unrecht.

Im Quartier, sagt Alfred Retz, halb auf seiner Kühltruhe sitzend, sind sie keineswegs alle gegen die Hochhäuser. Die einen sind dafür, die anderen dagegen, wie überall, halbe-halbe, schätzt er, überlegt, korrigiert sich: Die Befürworter dürften in der Mehrheit sein. Vielleicht um so viel, wie der linke Turm den rechten überragt. Dann kommt eine Mitarbeiterin dazu. Und, wie finden Sie's?

"Beschissen!" Früher, sagt die Frau, hat sie von ihrer Wohnung aus das Olympiastadion gesehen und die Feuerwerke. Jetzt stehen dazwischen die Türme. "Ich find, des passt net nei." "Schauen S'!" Alfred Retz lacht. Er hat's ja gesagt. "Das geht durch die ganze Bevölkerung. Geschmacksache." Es ist kurz vor vier an diesem Sonnentag. Der Schatten kriecht jetzt in die Dietersheimer Straße.

© SZ vom 17.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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