Deutschland gegen die Türkei:Freunde vor dem Spiel und auch danach

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Deutsche Fahnen, türkische Fahnen: Die Menschen im südlichen Hauptbahnhofviertel in München sind vor dem EM-Halbfinale hin- und hergerissen.

Elmar Jung

In der Bayerstraße gleich vor dem Hauptbahnhof steigen zwei groß gewachsene Männer in ein BMW-Cabrio. Ihre Gesichter verschwinden fast hinter riesigen Sonnenbrillen, das schwarze Haar ist streng nach hinten gekämmt und mit einer guten Portion Gel gebändigt. An beiden Seiten des Wagens sind Türkei-Fahnen befestigt. "Mittwoch, gell?", ruft ein deutscher Passant dem Fahrer zu und grinst. "Ja, ja. Mittwoch. Schauen wir mal", antwortet dieser, startet den Motor und braust mit quietschenden Reifen davon. Solche Kurzdialoge sind in diesen Tagen im Münchner Bahnhofsviertel häufiger zu hören. Völlig inhaltsleer, trotzdem weiß jeder, worum es geht: Fußball.

Die Münchner Türken lassen vor der Halbfinalbegegnung Deutschland gegen die Türkei keine Rivalität aufkommen. Statt dessen hängen viele auch deutsche Fahnen auf. Zehra Ucmak verkauft mit Erfolg EM-Devotionalien beider Nationen. (Foto: Foto: Andreas Heddergott)

Genauer gesagt dreht sich alles um die EM-Halbfinalbegegnung Deutschland gegen die Türkei, die am Mittwochabend stattfinden wird und schon jetzt die etwa 50.000 in München lebenden Türkischstämmigen in ihren Bann zieht. Überall hängen rote Fahnen mit weißem Halbmond und Stern, Zweier- und Dreiergruppen stehen wild gestikulierend und diskutierend am Straßenrand. Sie sprechen türkisch, aber die Namen Altintop, Schweinsteiger oder Ballack sind deutlich vernehmbar. Jeder ist jetzt Experte.

"Wir werden Europameister"

Fatih steht vor seinem Supermarkt in der Goethestraße. Gerade ist eine frische Ladung Obst und Gemüse eingetroffen, was gut ist, denn die Sonne brennt, und den Tomaten steht schon der Schweiß auf der verschrumpelten Haut. Mit der Kippe in der Hand gibt Fatih, 20, dem Liferanten letzte Anweisungen, wohin er die Ladung zu bringen habe. Dann wendet er sich wieder der Hauptsache zu. "Wir werden Europameister", sagt er und meint damit die Türkei, was gar nicht so klar ist, weil Fatih zwar einen türkischen Pass besitzt, aber in Deutschland geboren wurde, und "ich mich hier genauso heimisch fühle wie dort".

Mit diesem Gefühl ist er nicht allein. Die meisten in München lebenden Türken leben schon seit Jahrzehnten in der Stadt, Fatihs Familie beispielsweise führt ihr Geschäft bereits in der dritten Generation. Der innere Zwiespalt ist weithin sichtbar. Fast überall, wo eine türkische Fahne hängt, ist auch eine deutsche zu sehen. "Hauptsache, wir feiern nach dem Spiel alle ordentlich zusammen", sagt einer.

Im Dönerstand um die Ecke arbeitet Seyit, seit fast 30 Jahren in Deutschland, "meiner zweiten Heimat". Selbst ist er türkischer Staatsbürger, seine beiden Kinder haben einen deutschen Pass. Und vielleicht ist es ja gerade das Tolle am Fußball, dass man sich für 90 Minuten eine der beiden Heimaten aussuchen kann, ohne von der anderen verstoßen zu werden. Seyit tippt auf Elfmeterschießen, das "die Türken gewinnen und damit die Serie der Deutschen beenden werden". Seyit meint damit den Umstand, dass eine deutsche Fußballmannschaft bei Europa- oder Weltmeisterschaften noch nie ein Elfmeterschießen verloren hat.

"Am Ende ist es natürlich am wichtigsten, dass die Freundschaft gewinnt", sagt er, was ein bisschen kitschig klingt, aber ernst gemeint ist. "Vor dem Spiel sind wir Freunde und werden es nach dem Spiel auch wieder sein." Bleibt also nur die Zeit während des Spiels, in der die türkisch-deutsche Rivalität offen ausgelebt werden kann. Dann wird auch Seyit wieder aufpassen müssen, dass er vor lauter Erregung beim Dönerschneiden nicht seine Finger erwischt. Er hat Glück, dass er Arbeit und Spiel kombinieren kann. Muss er sogar, denn den Laden für die Dauer der Partie zu schließen, "würde mich eine Stange Geld kosten". Gearbeitet werde wie immer bis in den späten Abend.

Seyit will auch während des Spiels ein paar Döner loswerden. (Foto: Foto: Andreas Heddergott)

"Wir beten alle"

Bei BMW wird die Spätschicht am Mittwoch hingegen schon um 19 statt um 24 Uhr enden, was es den etwa 1700 Mitarbeitern mit türkischem Pass ermöglicht, rechtzeitig zum Anstoß zu Hause zu sein. Mangelnde Konzentration und Flüchtigkeitsfehler bei der Fertigung könnten den Konzern am Ende teurer zu stehen kommen als eine verkürzte Nachtschicht, so das Kalkül. Auch die Siemensmitarbeiter können beim EM-Halbfinale mitfiebern. Dort, wo im Schichtsystem in der Fertigung gearbeitet werde, gebe es meist Aufenthaltsräume mit TV-Geräten, in denen sich die Beschäftigten nach Absprache untereinander das Spiel anschauen könnten, sagte ein Siemens-Sprecher.

Im Bahnhofsviertel braucht es solche Regelungen nicht. Von 16 Uhr an "geht hier sowieso nichts mehr", sagt Zehra Ucmak, 52. Soll heißen: Gearbeitet wird, wenn überhaupt, nur noch nebenbei. Ansonsten wird "gefeiert, getanzt und getrunken". Ucmak gehört das Geschäft Minareci, ein Souvenirladen direkt am Hauptbahnhof, der alles verkauft, worauf das Motiv der türkischen Fahne Platz findet. Und Devotionalien mit dem Halbmond erfreuen sich seit der Renaissance des türkischen Fußballs besonderer Beliebtheit. "Das Geschäft läuft gut", sagt Ucmak, die dann aber lieber wieder auf den Fußball zu sprechen kommt. Die türkische Mannschaft sei stark ersatzgeschwächt, klagt sie, die Hoffnung auf einen Sieg daher nicht sehr groß. Man stapelt tief.

Fatih bemüht sogar "die Hand Gottes" als Grund dafür, dass es die Türken überhaupt ins Halbfinale geschafft haben. "Wir beten alle."

© SZ vom 24.06.2008/af - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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