Der Krieg ist aus (1):Der Horror hat grau-grüne Streifen

Lesezeit: 4 min

Zum 60.Jahrestag des Kriegsendes zeigt das Stadtmuseum von Ende April an die Ausstellung "Der Krieg ist aus" mit Fundstücken von Münchner Bürgern, die an 1945 erinnern. Die SZ wird 30 davon in einer Serie bis zum Mai vorstellen, heute: ein Mantel aus dem Konzentrationslager.

Von Antje Weber

Unscheinbar sieht der Mantel aus und hat doch eine verstörende Ausstrahlung. Gertrud Feinstein hat ihn gerade aus einem antiken Schrank geholt, der eine Wand des Zimmers dominiert. Sie hat den Mantel auf einen Stuhl gelegt, neben das Klavier.

(Foto: Foto: Catherina Hess)

Er passt hier überhaupt nicht hin, in diese gediegen großbürgerliche Altbauwohnung in Neuhausen. Schäbig sieht er aus mit seinem grau-grün gestreiften, harten Baumwollstoff, "mehr Papier als irgendwas", sagt Frau Feinstein abschätzig. Dazu das karge Futter, die billigen Blechknöpfe.

Dieser dünne Mantel, über Jacke und Hose ohne jede Unterwäsche gezogen, sollte die KZ-Häftlinge durch den Winter bringen. Oder auch nicht. "Das System war ja auf Ausmerzung ausgerichtet", sagt Gertrud Feinstein knapp.

Es geht der 78-Jährigen nahe, diesen Mantel zu sehen, zu berühren, immer noch. Dennoch oder gerade deswegen hat dieser Mantel sie seit 1945 an jeden ihrer Wohnorte bis hin nach Amerika begleitet, als starkes Symbol einer bewegenden Geschichte von Liebe und Zerstörung.

Einer ganz persönlichen Geschichte, die jedoch untrennbar mit dem historischen und politischen Hintergrund, mit den verhängnisvollen Ideen und Taten der Nationalsozialisten verbunden ist. Die Frage, warum Gertrud Feinstein den Mantel ihres verstorbenen Mannes aufgehoben hat, ist daher ganz einfach zu beantworten: "Dieser Mantel hat mein ganzes Leben bedeutet", sagt sie schlicht.

Die alte Dame mit dem mädchenhaften roten Zopf hat sich inzwischen auf ein zierliches Sofa gesetzt und zittert vor innerer Anspannung so sehr, dass sie die Besucherin bitten muss, den Kaffee einzuschenken. Dann fängt sie an zu erzählen.

Es ist ein Tag Anfang Mai 1945, kurz nach Kriegsende. Der Tag, wie Gertrud Feinstein später in einem Beitrag für die Münchner Geschichtswerkstatt schreiben wird, "an dem ich meine deutsche Unschuld verlor". Sie ist 19 Jahre alt, Tochter eines Bauunternehmers in Neuhausen, hat gerade ihr Notabitur abgelegtund sich an einer Sprachenschule eingeschrieben.

An diesem Tag drängt sie sich mit vielen anderen Menschen am Rotkreuzplatz in eine Straßenbahn der Linie 8, die von Schwabing über Neuhausen nach Sendling fährt, zwischen Häuserruinen und Schuttbergen hindurch. Gertrud hat eine alte Schultasche mit Zigaretten unter dem Arm, die sie gegen Strickwolle eintauschen will.

Zwischen all den Menschen, deren Denken nur um Essens-, Kleider- und Wohnungsbeschaffung kreist, sieht sie einen kahl geschorenen Mann in Fliegeruniform sitzen - lesend. "Gott im Himmel", sagt sie sich, "gibt es heutzutage noch einen Menschen, der an etwas anderes denken kann als an Essen?"

Der Mann, den sie für einen heimgekehrten Soldaten hält, bietet ihr den Platz neben sich an. Wohlerzogen lehnt sie zunächst ab - bis sie den Vertrauen erweckenden Titel des Buches erkennt: "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller.

Die beiden kommen ins Gespräch, steigen an derselben Station in Sendling inmitten der Trümmer aus. Plötzlich fragt der Mann das Mädchen: "Wissen Sie, wie ein Jude aussieht?" Nein, sagt das Mädchen. "Ich bin ein Jude", sagt der Mann, "schauen Sie mich nur genau an." Und dann erzählt Jakob Ben-Zion Feinstein von seiner Odyssee durch die osteuropäischen Konzentrationslager bis ins Außenlager des KZ Dachau in Utting, wo er eine Woche zuvor von US-Truppen befreit worden ist.

Für Gertrud bricht eine Welt zusammen. "Ich hatte keine Ahnung davon gehabt", sagt sie. Mit kleinen Ausnahmen: So war einige Jahre zuvor die Spielkameradin der kleinen Schwester auf einmal verschwunden. Die Familie sei weggezogen, erklärte der Vater. "Wir haben nicht nachgefragt, das gehörte sich nicht."

An jenem Tag im Mai 1945 jedoch fängt sie an zu fragen. Sie besucht den mehr als 20 Jahre älteren Juden in der Flakkaserne im Norden Münchens, wo tausende Überlebende aus süddeutschen Konzentrationslagern untergebracht sind. Sie sieht zum ersten Mal den Mantel, damals noch mit der Häftlingsnummer im gelben Dreieck gekennzeichnet. Und sie lernt zwei Kusinen von Jakob Feinstein kennen; die einzigen Menschen seiner Familie, die am Leben geblieben sind.

Denn Jakob Feinstein, 1905 im litauischen Polangen in die gutbürgerliche Familie eines Bernsteinfabrikanten hineingeboren, ist wie die meisten europäischen Juden durch die Hölle gegangen. Zunächst war er mit seiner Familie ins Ghetto von Schaulen gepfercht worden.

Am 10.September 1941, während er mit den anderen Männern bei der Arbeit ist, werden alle Frauen, Kinder und Alten zusammengetrieben und in einem nahen Wald erschossen. Als Feinstein abends nach Hause kommt, sind seine Frau und seine zwei Töchter tot. Er selbst wird nach der Auflösung des Ghettos ins KZ Stutthof und später nach Bayern deportiert.

Als Jakob Feinstein im Mai 1945 seine Freiheit wieder gewinnt, will er noch einmal von vorn anfangen. Er beginnt in München ein zweites Leben - ausgerechnet mit einer katholischen Deutschen! Die Verwandten sind entsetzt, doch der 40-Jährige will sich und der Welt beweisen, dass Versöhnung möglich ist. "Er wollte nur den Einzelnen verdammen, kein Volk", sagt seine Witwe. "Er hat darum gekämpft und gepredigt!"

Die Hochzeit von Jakob und Gertrud Feinstein 1951 könnte also das Happy-End einer schlimmen Geschichte sein. Doch anders als im Film ist ein Leben nicht mit dem Abspann vorbei. Denn auch wenn Jakob Feinstein den Holocaust überlebt hat, seine Erlebnisse haben ihn für immer geprägt - und zerstört. "Ich habe als junger Mensch nicht verstanden", sagt seine Frau, "dass ein Mensch nicht nur körperlich zugrunde gerichtet wird, sondern auch seelisch."

Doch ihr Mann, mit dem sie in Amerika mühsam eine neue Existenz aufbaut, leidet nicht nur immer stärker an den körperlichen Folgen von Unterernährung und Zwangsarbeit. Auch die seelischen Verletzungen brechen wieder auf - und die Wahnvorstellungen, Depressionen und Aggressionen wenden sich gegen seine Frau. "Ich stand stellvertretend für das deutsche Mördervolk", sagt sie leise. "Er wollte mir sogar unseren Sohn wegnehmen, weil ich keine richtige jüdische Mutter war. Es war ein Horror."

Warum sie ihren Mann damals nicht verlassen hat? Gertrud Feinstein zeigt schweigend auf den Mantel, den sie inzwischen an den Schrank gehängt hat. "Ich hätte keine friedliche Minute mehr gehabt. Ich wäre dann auch genau so eine Deutsche gewesen, die ihm zum zweiten Mal ein Kind wegnimmt." An seinem Unglück, sagt sie, sei ihr Mann ja schließlich nicht selbst schuld gewesen: "Wirft man so einen Menschen auf die Straße?"

Und so ist sie bei ihm geblieben. In den siebziger Jahren sind sie nach München zurückgekehrt, wo er 1986 gestorben ist. Bereut hat sie ihre Entscheidung nie. "Auch wenn ich ein anderes, lustigeres Leben hätte führen können, würde ich wieder genau dieses wählen", sagt Gertrud Feinstein. "Ich bin bis heute froh, dass ich auf die andere Seite geraten bin, auf die Seite der Opfer."

Viele ihrer Altersgenossen hätten ihre Einstellung bis heute kaum geändert; sie findet das "traurig und beschämend". Gertrud Feinstein selbst will Zeugnis ablegen, ohne zu missionieren. Viel muss sie ohnehin nicht sagen: Der Mantel, der am Schrank hängt, spricht für sich. Die Sprache des Schreckens.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: