"Der Freistaat diskriminiert niemanden":Schwul, alt und ausgegrenzt

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Der Kampf um Anerkennung: Homosexuelle jenseits der 50 haben selbst in der eigenen Szene nichts zu lachen.

Claudia Schuh

Theo Kempf rechtfertigt sich, sein Leben lang hat er das getan: "Wir sind eine Freizeitgruppe mit Selbsthilfeanteil, aber keine Selbsthilfegruppe." Dabei ist Theo Kempf nicht anders als die anderen. Schon gar nicht krank. Theo Kempf ist schwul. Und alt. Was die Sache verkompliziert.

Sie geben sich Halt: Die Gruppe "Gay and Gray" kämpft für die Rechte der Homosexuellen über 50. (Foto: Foto: Robert Haas)

Man kann auch sagen: Was die Ausgrenzung verdoppelt. Deshalb hat Kempf Leute gesucht, die sind wie er und sich in der Gruppe "Gay and Gray", im Englischen ein unkorrektes Wortspiel für schwul und grauhaarig, organisiert. "Wir sind da", will Kempf damit signalisieren, weil sie meist übersehen werden.

"Unsere Gesellschaft ist vom Jugendwahn besessen, bei den Homos ist das noch schlimmer als bei den Heteros", beobachtet Kempf. "Bist du nicht jung und schön, existierst du nicht in der körperfixierten Szene." Und wenn über Schwule berichtet werde, ginge es bis zu 99 Prozent um junge.

Bayern ist einfach noch eine andere Welt

Jung ist Kempf mit seinen 58 nicht mehr. Und über Schönheit macht sich der stille Mann keine Gedanken, das habe er nie getan. Aufgewachsen im Heim und durch einen Sprachfehler gehandicapt, gab es Wichtigeres für ihn als den eitlen Blick in den Spiegel.

Vor vier Jahren hat er mit der Gründung der schwulen Seniorengruppe den großen Schritt vom Rand in die Mitte gewagt, vielleicht war es sein größter Schritt seit dem Coming-Out vor vielen Jahren.

Bis heute ist er der lauteste Sprecher der schwulen Seniorengruppe. Sie fordert, dass bayerische Politiker sich mehr für ihre Interessen einsetzen. In Berlin, sagen einige Mitglieder, würden sie sich weit weniger ausgegrenzt fühlen. "Bayern ist einfach noch eine andere Welt", sagen sie.

Von Ausgrenzung könne in Bayern keine Rede sein, sagt dagegen der Sprecher des Bayerischen Sozialministeriums, Bernhard Seidenath: "Der Freistaat diskriminiert niemanden. Die sexuelle Orientierung spielt keine Rolle." Einzelfälle müsse man genau prüfen.

Die Wahrnehmungen der Männer im Rentenalter, die sich seit Oktober 2002 organisieren, ist eine andere. Mal sei es ein Hausbesitzer, der zwei Schwulen keine Wohnung gibt; mal verletzende Bemerkungen vom Kinosessel neben an.

"Klar", sagen alle, "Einzelfälle sind das." Aber das müsse nicht sein. Deshalb haben sich Ältere zusammengefunden, zunächst verstohlen im hinteren Eck von Kneipen, später öffentlich im Schwulentreff "Sub" in der Müllerstraße. Immer montags. Am Anfang waren sie zu fünft oder zu sechst, jetzt sind sie 20. Immer noch erstaunlich wenig für eine Großstadt wie München, wo geschätzte 10000 bis 20000 Homosexuelle leben, die älter als 65 sind.

Keiner will seinen Nachnamen in der Zeitung lesen

"In jeder Familie und in jedem Großstadthaus lebt ein Schwuler", sagen sie. In Holland, selbst in Spanien sei alles liberaler. In Deutschland hingegen brauche man Courage. Sie, die hier sind, sind auf ihre Art mutig, weil sie sich zumindest im Schwulenviertel zeigen, obwohl sie alt sind.

Keiner will, außer Theo Kempf, seinen Nachnamen in der Zeitung lesen. Die Gruppe hat niemanden außer jene, die hier um den rechteckigen Tisch sitzen. "Gay and Gray" - das ist mehr als ein Stammtisch.

Das ist Nachbarschaftshilfe und, auch das, Familienersatz. Im Alter zu vereinsamen ist für Schwule besonders schwer, sagen sie. Sie haben keine Kinder und selten so etwas wie Familie. Deshalb besuchen sie sich bei "Gay and Gray" auch gegenseitig im Krankenhaus, wenn es einen irgendwie erwischt, erzählt Kempf.

Wer hierher kommt, will reden. Zum Beispiel, wie Erich neulich, über die eigene Mutter, weil sie plötzlich gestorben war. "Da waren die anderen für mich da", erzählt er. "So soll es sein", sagt Sepp zu ihm. Die Angst vor dem Tod, auch die vor durch Aids wegbrechenden Freundschaften, nimmt in den montäglichen Gesprächen viel Raum ein - und das Thema Partnerschaft im Alter.

Die Gruppe lässt sich grob einteilen in viele Partnerlose und zwei, drei fest Liierte. Fest heißt bei Sepp 27 Jahre und für Berndhard 32 Jahre denselben Partner haben. Es überrasche viele Heteros, sagen sie, dass es Treue auch bei ihnen gebe.

Bernhard hört genau zu. Er ist Gast bei "Gay and Gray", weil er gemerkt hat: "Ich werde alt und muss mich in diese neue Rolle noch finden." Er lebe nicht in einem "Homo-Kosmos", sondern ganz normal als Pädagoge und Angestellter der Stadt, sagt er. "Da hört das Coming-Out nie auf."

Viele wenden sich angewidert ab

Bei jeder neuen Bekanntschaft erlebt er dasselbe Verdutzen, manchmal Verständnis, oft aber auch angewidertes sich Abwenden. Bernhard kennt die hohe Prozentzahl an Suizidversuchen unter Homosexuellen. Psychische Erkrankungen ließen sich aber auffangen - etwa durch die Abende bei "Gay and Gray". Deshalb will er nächsten Montag wiederkommen.

Die große Angst heißt also Ausgrenzung - viele der schwulen Alten haben noch strafrechtliche Verbote erlebt, die bis 1969 galten. Die zweite Angst heißt Altersvorsorge. Keiner wünscht sich ein "Schwulen-Altenheim". Denn gerade gegen Ghettoisierung kämpfen sie. "Aber sollen wir in ein katholisches Pflegeheim, wo alle erst mal fragen: Verheiratet? Kinder? Und sie irgendwann kapieren, was Sache ist?"

Nicht nur von der heterosexuellen Mehrheit fühlen sich Kempf und die anderen ausgegrenzt. In der Münchner Schwulen-Szene selbst haben die Alten die größten Probleme. Daran sind sie selber Schuld, sagen die Münchner Jungorganisationen für Schwule, J.U.N.G.S und "diversity". Im Sommer hatten alte und junge Schwule gemeinsam gegrillt.

"Die Jungen saßen da und wir dort", sagt der gut 60-jährige Wolf. Die Jungen blieben unter sich, aus Angst, ein Älterer könne sich an sie ranmachen. Daniel, 22, von diversity, sieht das anders: "Das Grillfest war ein super Erfolg: Die wenigen, die von ,Gay and Gray' kamen, sind aber früh gegangen." Daniel wünscht sich, "eine große Szene, die sich versteht".

Selbst junge Schwule haben Vorurteile

Er sagt aber auch: "Wir machen Jugendarbeit, mit Altersbegrenzung U 27, das ist wie beim Sport. Das hat längst nichts mit Ausgrenzung zu tun." Ähnlich denkt Antonis, Jugendgruppenleiter von J.U.N.G.S.: Beim Grillfest habe es verschiedene Cliquen gegeben, wie immer bei Festen. "Vereinzelt gab es auch Junge bei den Alten am Tisch."

Es stimme, viele, die frisch in der Szene seien, hätten das Vorurteil vom "alten Mann, der Süßigkeiten anbietet", aber es gebe "solche und solche".

Für Aktivitäten gemeinsam mit Älteren zeigen sich beide Münchner Jugendgruppen offen. Eine "bewusste Diskriminierung" gebe es nicht. Auch er werde mal alt, sagt Antonis. Doch "so richtig viel Freizeit" möchte er mit Leuten im Alter 65 plus x trotzdem nicht verbringen. Dass 20-Jährige und 65-Jährige andere Lebensstile hätten, sei bei den Heterosexuellen auch nicht viel anders.

© SZ vom 3.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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