Der Aushäusige (4):Rache!

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Als "Writer in Residence" logiert Friedrich Ani für ein paar Wochen im Arabella Sheraton Hotel - und beobachtet das Leben im Hotel.

Wenn der Hahn kräht in Russland, ist es kurz vor Mitternacht. Man kann nie wissen. Russland ist ein freies Land, womöglich dürfen Hähne dort krähen, was und wann sie wollen. Krähen kann man nicht verstehen. Im Gegensatz, zum Beispiel, zu Journalisten.

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Das sind nur so Gedanken, kurz vor Mitternacht. Nicht in Russland (oder dort auch?), nein, in der Bar des Grand Hotels, zu den Klängen des australischen Pianisten.

Er ist ein Meister seines Metiers, mit seiner bluesigen Stimme und seinem geschmeidigen, souveränen, unprätentiösen Klavierspiel bringt er die Gäste zum Zuhören, ohne dass diese sich in ihren Gesprächen oder ihrem Sinnieren gestört fühlen müssen. Und er selbst lässt sich ebenfalls nicht aus der Ruhe bringen - auch nicht, wenn plötzlich ein russischer Hahn kräht.

Immer wieder erstaunlich, welche Töne Handys so ausspucken können.

Aber der Russe telefoniert nicht. Er hat nur eine SMS erhalten. Nicht die erste in dieser Nacht. Gut so. Jemand denkt an ihn. Wir denken alle an ihn, während wir den Songs des Pianisten zuhören. Wir denken: Erhält der Absender der Nachricht eine Botschaft zurück? Kräht's in der Ferne bald auch? Und freuen sich alle darüber?

Ansonsten ist es still am Tisch des Russen. Ganz anders als an dem Tisch neben der Bühne. Dort sitzt vermutlich der Lieblingsgast aller Barpianisten der Welt: Ein Mann - die Beschreibung seines Äußeren wäre zu klischeebeladen -, der ungeniert das Wort an den Musiker richtet, während dieser noch spielt, und ihn, kaum dass das Lied zu Ende ist, fragt, was er trinken möchte, egal, was es kostet.

Die Stimme des Gastes ist laut und fordernd, er ist nicht betrunken, er will nur gehört werden.

Wollen wir das nicht alle, nachts in der Hotelbar?

Deswegen schweigen wir doch so intensiv.

Das wird jetzt schwieriger, das Schweigen.

Beim nächsten Song singt der Gast einfach mit, zwei, drei englische Wörter des Refrains, die er halbwegs auswendig weiß. Und er singt laut und fuchtelt mit dem Arm und klopft mit der anderen Hand seinem Kumpanen auf die Schulter. Solche Gäste haben immer einen Kumpanen an ihrer Seite, oder sogar zwei, wie in diesem Fall. Unser Gast - nennen wir ihn kumpelhaft Hubsi - lehnt sich zurück und ist ganz bei sich.

Zu erwähnen, dass er eine Zigarre raucht, ist fast nicht wichtig.

Hubsi scheucht auch gern die jungen Bedienungen durch die Gegend, natürlich müssen sie etwas trinken, so wie der Pianist, der sich inzwischen vielleicht heimlich wünscht, der Hahn möge dreimal krähen, und jemand würde kommen und Hubsi den Weg in Richtung Golgatha . . .

Ach was.

So denken Barpianisten nicht. Sie kennen alle Sorten Gäste, wie sie die Sorten sämtlicher Drinks kennen, die ihnen spendiert werden. Und deshalb gibt der Australier dem unermüdlich sein Megamusikwissen verbreitenden Hubsi schließlich eine unglaubliche Antwort.

Auf die noch in die letzten Takte des vorherigen Songs hineingeschrubbte Frage, ob er wohl auch "Mandy" von Barry Manilow kenne, erwidert der Pianist: nein.

Er sagt echt nein.

Das ist so, als würde ein bedeutender Lyriker bei einer Lesung auf die Frage eines nervenden Zuhörers, ob er den "Panther" von Rilke kenne, erklären: nie gehört. Und zwar mit der ernsthaftesten, überzeugendsten Miene.

Sogar der russische Hahn hörte danach auf zu krähen.

© SZ vom 16.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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