Das neue Album der Moulinettes:Herr Rossi in der Unheilbar

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Vom Unterschied, spärlich bekleidet oder nackt zu sein und dem neuen Rocken der mittlerweile gestandenen Müttern in "Serendipity Park".

Von Jochen Temsch

Zu Nebenwirkungen fragt der Freischwimmer am besten Doktor Howard Crosby Warren von der Princeton University. Der sagt: "Der Unterschied zwischen dem Baden selbst in spärlichster Kleidung und dem Nacktbaden kann nur verglichen werden mit dem Unterschied zwischen einer teilweisen und einer kompletten Sonnenfinsternis."

Die Moulinettes (Zum Vergrößern auf die Lupe klicken.) (Foto: Foto: Gerald von Foris)

So wird der gelehrte Ganz-ohne-Anhänger jedenfalls auf der Website www.serendipity-park.com zitiert, der Seite des ersten Nudisten-Camps in Georgia/USA. Diesen Klick wiederum empfehlen die Moulinettes "insbesondere" auf der Hülle ihres gleichnamigen, soeben deutschsprachig bei Paul!/Zomba und international bei Shado erschienenen Albums "Serendipity Park".

Und schon ist der Hörer mittendrin in einem verschlungenen, fruchtbar dampfenden Garten aus Querbeeten, Stilen in voller Blüte und seltsamen lyrischen Symbiosen.

"Serendipity" bezeichnet im Englischen die Gabe, zufällig glückliche und unerwartbare Entdeckungen zu machen. Für diesen Wörterfund gebührt den Moulinettes der Preis für den kryptischsten Albumtitel des noch jungen Jahres. Aber damit locken Claudia Kaiser, Martin Lickleder, Kiki Lorrig-Wossagk und Barbara Streidl auch all jene auf einen Erkundungs-Trip, die den gut gelaunten Schubidu-Pop der Moulinettes bislang eher belächelt haben.

Zwar hat auch "Serendipity Park" die typische, vordergründig unbeschwerte Easy-Listening-Ästhetik seiner beiden Vorgängeralben "20 Blumen" und "Alfa, Bravo, Charlie"; wie gehabt gehen Lofi-Gitarrenpop und mehrstimmiger Harmoniegesang in lieblichem Sechzigerjahre-Anklang auf; es gibt wieder diesen ironischen Unterton, wie er ja schon im Bandnamen steckt.

Aber: Die Moulinettes rocken rauer denn je. Ihren bewährten Stil haben sie weiterentwickelt, weiter weg entwickelt vom bisher gepflegten, beglückenden Bossa Nova und von kuscheliger Elektronik für die Sofa-Lounge, hin songweise sogar bis zu knüppeligem Garagenpunk.

Das Leben ist schließlich auch härter geworden. Die Abwendung vom netten Schlager spiegelt sich auch in den Texten wieder, die mehr als gewohnt in Wut und vor allem Schwermut abdriften.

Die fantasierenden Vier, inzwischen auch gestandene Mütter und Eheleute, dichten voller Wortwitz und Rätsel über die Liebe und das Leben. Nachdem "Herr Rossi" vor sechs Jahren auf dem Erstling "20 Blumen" noch positiv naiv das Glück suchte, endet derlei Recherche auf "Serendipity Park" vorläufig an düsteren Orten wie der "Unheilbar", über die es heißt: "In der Unheilbar, wo du bedienst, werden nur Lügen aufgetischt, und die Gedankenwelt, in der du lebst, gehört mal dringend nass rausgewischt."

In der Wohnung, in der es "dreckiger als auf dem Mond" ist, liegen "berühmte Tote, halb aufgetaut". Und selbst Flirts in Zeiten der Ich-AGs führen nur noch zu "Am Abgrund Schlange stehen" und feindlichen Übernahmen: "Beim ersten Mal trafen sich unsere Blicke - beim vierten Mal unsere Anwälte."

Bereits in ihrem vergangenes Jahr erschienenen Band-Bericht "Rocken & Hosen", einem unterhaltsamen Stück Pop-Popliteratur, hat Sängerin Claudia Kaiser den längst überfälligen Versuch unternommen, der männlich dominierten Rockgeschichte mehr Weiblichkeit zu geben und einige Klischees über das Dasein als Independent-Band vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Nun, auf ihrem neuen Album, klingen sie und die anderen Moulinettes ernst zu nehmender als je zuvor. Und einfach klasse - egal, ob man die Scheibe nackt hört oder spärlich angezogen.

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