Brennpunkt Hauptschule:Frühstück für den Frieden

Lesezeit: 3 min

Hunger, Vernachlässigung, Gewalt: Die Albert-Schweitzer-Hauptschule arbeitet gegen die sozialen Probleme der Nachbarschaft an.

Anja Burkel

Schon droht der Junge, durch die Luft zu segeln. Ein Mitschüler hat ihn senkrecht geschultert und wirbelt ihn hoch über dem Pausenhofboden herum. Gerade noch tritt ein Lehrer heran - "Hey, hey!" - und überzeugt beide vom Ende der Aktion. Wenn die Hauptschule an der Albert-Schweitzer-Straße Pause macht, geht es schon mal hoch her: 520 Schüler aus 61 Nationen zählt die Neuperlacher Schule, 75 Prozent tragen ausländische Namen. Kaum eine Woche vergeht, in der Schulleiter Rudolf Wenzel nicht die Jugendkontaktbeamten der Polizei hinzu rufen müsste. Aber Zustände wie in Berlin? "Die versuchen wir hier zu verhindern", sagt er.

Auch mit Graffiti-Workshops versucht Schulleiter Rudolf Wenzel, den Jugendlichen Selbstvertrauen zu geben. Den hippen Albert Schweitzer hat Sprayer "Loomit" mit den Schülern kreiert. (Foto: Foto: SZ/Heddergott)

Die Probleme inmitten des Münchner Brennpunktviertels stammen nicht aus einem bestimmten Herkunftsland, sagt Wenzel. Die Probleme stammen aus der sozial schwachen, "extrem schwierigen" Schicht der Nachbarschaft. Viele Kinder müssen morgens selbstständig aufstehen, sich anziehen, in die Schule gehen - während die Eltern im Bett liegen bleiben. "Hier ruft eine Mutter an", erzählt Wenzel, "und sagt: Kann's sein, dass mein Sohn auf Ihre Schule geht? Ist der grad da?" Arm sind fast alle. Vom Büchergeld war die Hälfte der Eltern als Hartz IV-Empfänger befreit. Weil in den wenigsten Familien jemand Frühstücksbrote schmiert, kommen die Kinder hungrig zur Schule. "Auch Hunger macht aggressiv", sagt der Schulleiter. Deshalb gibt es beim Hausmeister ein Frühstück mit kalten und warmen Speisen. Um heillose Zustände zu vermeiden, wenn 500 Schüler mit knurrendem Magen anstehen, wurde die Frühstückspause gesplittet.

Kulturkonflikte verschärfen die Situation. "In manchen Elternhäusern herrschen einfach völlig andere Werte als bei uns in der Schule". Familien aus ländlichen Gebieten in Ostanatolien oder Albanien etwa lebten einen "Männlichkeitswahn, der auch in den Köpfen der Schüler herum geistert". Zwei Sprachlernklassen gibt es, außerdem eine so genannte "Übergangsklasse", in der 24 ausländische Kinder vom ersten Satz an Deutsch lernen müssen.

Viele sind traumatisiert

Viele Kinder sind nicht nur von Vernachlässigung, sondern auch von Misshandlung und Missbrauch "schwer traumatisiert", so Wenzel. Mit Institutionen wie dem Jugendamt telefoniert der Schulleiter ständig, zum Beispiel, um auf Verdachtsmomente hinzuweisen. "Lieber rufe ich einmal zu oft an, als einmal zu selten." Besonders froh ist er über den Kontakt zur Polizei. "Ihre Präsenz stärkt das Selbstvertrauen von Opfern, sich zu wehren und Hilfe zu holen." Die Polizisten sprechen gezielt Schüler an, wenn Mobbinggerüchte kursieren, oder sie klingeln schon mal an der Wohnungstür eines Mädchens, das nicht in der Schule aufscheint und zuhause nur per Mailbox erreichbar ist.

Vor allem hat die Schule damit zu tun, das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken, das zu Hause oft "schwer beschädigt worden ist". Das versucht die Schule mit einem umfangreichen Maßnahmen-Mosaik. Im Rahmen des Kids-Projekts kommen Künstler zu Kunst- und Theaterkursen in die Schule, zu Schreibwerkstatt oder Trommelworkshops. Mit Hilfe des Star-Sprayers Loomit verzierten die Schüler vor einigen Jahren die Pausenhalle mit einer fliegenden Graffiti-Kuh, den Hof mit einem ziemlich coolen Albert Schweitzer. Solche Unternehmungen, davon ist Wenzel überzeugt, stärken auch das Wir-Gefühl.

Trotz aller Widrigkeiten lautet das Leitbild der Schule, "unsere Schüler zu einem selbstbestimmten Leben auf Basis eigener Arbeitseinkünfte zu führen". Wunsch und Wirklichkeit der Jugendlichen, wie diese Einkünfte später erzielt werden könnten, klaffen aber oft weit auseinander. Die Jungs wollen Computerfachleute werden, die Mädchen Rechtsanwaltsgehilfinnen. "Aber in der Realität", so Wenzel, "sind Mathe und Deutsch oft nicht die Stärken unserer Schüler." Dagegen glänzten sie mit ihrem "freundlichen Wesen und ihrer Kontaktfähigkeit" bei Praktika im Einzelhandel. Solche Hospitanzen organisiert die Schule "noch und nöcher", nebst Bewerbungtraining und Berufsberatung.

Warten auf Sozialarbeiter

Es sind viele Aufgaben zu bewältigen von einem Kollegium, dem es an Lehrern mangelt. Nicht selten muss zur Vertretung ein Pädagoge zwei Klassen unterrichten. Auch fehlt der Schule ein Sozialarbeiter . "Das wäre unser ganz großer Wunsch", sagt Wenzel. Inzwischen hat das Jugendamt eine Stelle versprochen. Bis dahin wird die Lücke weiter kompensiert; mit Beratungslehrern, Schulpsychologen und etwa dem "Asa"-Projekt, Kürzel für "Alternatives schulisches Angebot".

Bei Verhaltensauffälligkeiten loten dabei ein Haupt- und ein Förderschullehrer aus: Liegt eine Lernstörung vor? Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es? Wäre eine Förderschule besser? "Oft ist ein akutes Problem aus dem Umfeld schuld," sagt Rudolf Wenzel. "Manchmal hilft es schon, wenn ein Lehrer sich eine halbe Stunde zu dem Schüler setzt und zeigt: Ich hab jetzt Zeit für Dich."

© SZ vom 8.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: