Arzt in Schwabing:12 Stunden, 21 Notfälle, ungezählte neue Vorschriften

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Die niedergelassenen Mediziner protestieren - zu Recht? Ein ganz normal stressiger Arbeitstag des Hausarztes Rolf Atzinger.

Sibylle Steinkohl

Jammern gilt nicht. Rolf Atzinger findet, dass er einen wunderbaren Beruf hat und dass auch das Geld, das er mit nach Hause bringt, reicht. Noch jedenfalls.

Viele Patienten - und immer mehr Schreibtischarbeit: Dr. Rolf Atzinger (Foto: Foto: Catherina Hess)

Der Internist ist Hausarzt in seiner Schwabinger Praxis und kämpft mit Entwicklungen, die ihm den Job zunehmend schwer machen - und nicht nur ihm. Auf ihrem dritten nationalen Protesttag äußerten jüngst Tausende niedergelassene Mediziner erneut ihren Unmut über ausufernde Bürokratie und niedrige Honorare. Der 51-jährige Arzt schildert einen Arbeitstag zwischen Patienten und Papierkram, Krankenbehandlung und Gesundheitsbürokratie.

7.30 Uhr: Der Montag beginnt mit einer Visite im Damenstift, einem Altenheim in der Nähe, in dem mein Praxispartner und ich 30 Patientinnen betreuen. Alle sind bettlägerig, wie die Frau nach einem Schlaganfall, der ich heute Blut abnehme für einen Quick-Test. Sie braucht Marcumar zur Blutverdünnung, das muss man öfter kontrollieren. Ich besuche auch einige andere Patienten auf der Pflegestation. Manche kenne ich schon aus ihrer Zeit vor dem Heim, als sie noch in die Praxis kommen konnten.

8.10 Uhr: Das Wartezimmer füllt sich, elf Patienten sind für den Vormittag eingetragen, hauptsächlich zur ausführlichen Gesundheits- und Krebsvorsorge, also EGK, Lungenfunktion, Labor, Ultraschall der Schilddrüse, der Bauchorgane und Blutgefäße. Auch ein paar Impfungen sind dabei.

8.15 Uhr: Vormittagssprechstunde: Bei den bestellten Patienten bleibt es nicht. Für dringende Fälle sind wir jederzeit zu sprechen, heute sind es gleich 19. Eine 85-jährige Frau, die ich seit meiner Praxisübernahme vor drei Jahren kenne, ist ganz aufgeregt. Neulich nach 20 Uhr hat jemand von der Krankenkasse bei ihr daheim angerufen. Sie solle doch ins Disease Management Programm gehen. "Wir hätten da was für Sie", hat der Mann gesagt, "wegen Ihrem Diabetes."

"Aber ich hab doch gar keinen Zucker", hat sie irritiert geantwortet. Ich beruhige sie, bestätige, dass sie nicht Diabetikerin ist, und ärgere mich. Sie ist ja kein Einzelfall. Da werden ärztliche Daten von den Kassen benutzt, um Patienten abends über unsere Köpfe hinweg für ihre Programme zu ködern, angeblich, um die Qualität bei chronischen Krankheiten zu sichern.

Pro eingetragenem Patient springen für die Kasse ein paar Tausend Euro aus dem Risikostrukturausgleich heraus. Der leukämiekranke Herr B. will partout nicht zu einem zweiten Arzt gehen. Er bekommt hier in der Praxis seine Chemotherapie, ich rate ihm vergeblich zu einer zweiten Meinung bei einem Spezialisten seiner Wahl.

Dann bespreche ich den Fall mit einem Kollegen aus dem Schwabinger Krankenhaus. Ganz im Sinne der Qualitätsüberprüfung ist mein Eingreifen natürlich nicht. Bleiben 17 dringende Fälle plus jene Patienten, die schon einen Termin hatten.

11.25 Uhr: Wie viele Abrechungsziffern ich heute wohl schon eingetippt habe? Das ist nämlich neu: Fünf Ziffern pro Abrechnungsposten statt bisher zwei. Simples wird bei uns immer komplizierter. Im vorigen Jahr haben wir von der Kassenärztlichen Vereinigung ein komplett neues Abrechnungssystem übergestülpt bekommen und die ganze Software umrüsten müssen.

Jetzt flattern fast jeden Monat neue Richtlinien und Regeln auf den Schreibtisch. Bürokratie-Aberwitz. Neu ist Formular 81, das zur Behandlung von Patienten während der Fußball-WM benutzt werden soll. Oder das Vor-Antragsformular zum Antragsformular einer Rehabilitation!

11.30 Uhr: Rechts der Patient, links das Sonogramm, da klingelt das Telefon. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen will Informationen zur Krankschreibung eines Patienten, warum schon so lange und wie lange noch? Mir fällt eine andere Patientin ein, die ich nach einem Arbeitsunfall krankgeschrieben habe, sie hatte extreme Schmerzen, konnte kaum laufen.

Wie ein Pennäler musste ich mich bei der Berufsgenossenschaft rechtfertigen, dass ich ihr das Attest gegeben habe. Die "Prellungen" entpuppten sich dann als Beckenbruch. Kontrollen, ob von den Kassen oder von "unserer" KV, sind längst Alltag. Als ob wir alle korrupt und betrügerisch wären.

11.45 Uhr: Frau L. ruft an, ihr Mann sei so krank, hohes Fieber und heftige Kopfschmerzen. Ich verspreche ihr, mittags vorbeizukommen. Ein Hausbesuch bringt um die 20 Euro. Den Vergleich mit dem Waschmaschinen-Kundendienst will ich gar nicht strapazieren.

13.10 Uhr: 30 Patienten in fünf Stunden.

13.45 Uhr: Gut, dass ich bei Herrn L. war. Abends muss ich nochmal hin, wenn ich ihn nicht aus Vorsicht gleich ins Krankenhaus schicken will. Meine Patienten sind froh, dass ich ins Haus komme, wenn es nötig ist. Ich kann ihren Zustand besser beurteilen als ein fremder Kollege vom Bereitschaftsdienst, kann eher mal warten bis zu einer Klinikeinweisung. Hausärzte sparen Kosten.

13.50 Uhr: Höchste Zeit für Verwaltungsarbeit: Kassenanfragen beantworten, Gutachten für das Versorgungsamt schreiben, die Diagnostik der nächsten Tage vorbereiten, am Telefon Befunde besprechen. Heute wird es knapp, die Mittagspause fällt aus. Wir haben Fertiggerichte im Kühlschrank, und wenn möglich, essen mein Praxispartner und ich mit unseren Mitarbeiterinnen, das tut uns allen und dem Praxisklima gut.

14.30 Uhr: Natürlich bin ich nicht fertig mit dem Papierkram. Ein Kaffee im Stehen, bevor die Nachmittagssprechstunde beginnt. Vielleicht kommen wir jetzt in ruhigeres Fahrwasser. Doch nein, im Wartezimmer ist bereits eine Frau, deren Blutzucker auf 400 gestiegen ist. Da müssen die anderen warten.

15 Uhr: Noch ein Notfall, ein Patient mit akuter Atemnot.

Ich kontrolliere sofort mit EKG und Schnell-Labor, ob ein Infarkt vorliegt oder droht. Manchmal helfen Ruhe und Zuspruch, dass sich Aufregung und Atemnot legen. Auch bei Herrn M. ist es so, er muss nicht ins Krankenhaus.

16 Uhr: Die Wartezeit beträgt jetzt fast eine Stunde, niemand wartet gern, aber ich mache keine Drei-Minuten-Medizin. Hier geht kein Patient raus, mit dem nicht alles besprochen ist, das dauert auch eine Viertelstunde oder länger. Es trägt zur Qualität bei, das lasse ich mir nicht nehmen. Was so ein Tag finanziell bringt, weiß ich selber nicht. Die Abrechnungsziffern von uns Kassenärzten korrelieren nicht mit Euros, sondern mit Punktwerten, die "floaten".

Das heißt, dass wir keine vorausschauende Kostenplanung machen können. Jedes Quartal ist anders. Was ich über die gesetzlichen Kassen erwirtschafte, fließt direkt in die Praxis zurück: Miete, Personal, Verträge, die Pflege der Software-Updates. Die Praxiserträge stammen von den Privatkassen. Ich behandle alle Patienten gern, dafür bin ich sehr gut ausgebildet. Man darf bloß nicht glauben, dass eine Praxis von den Kassenleistungen leben kann.

17 Uhr: Für den Spätnachmittag bestelle ich meine schwierigen Fälle, die viel Zeit wollen und brauchen. Heute sind es zwei Patienten mit Depressionen, der Krankheit unserer Zeit. Bei Frau S. hat sich ein teures Antidepressivum bewährt, von dem ich sie überzeugen konnte. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr im Krankenhaus, vorher alle drei Wochen.

Sie reagiert extrem nervös auf jede Veränderung. Und nun soll ich ihr ein billigeres Nachfolge-Präparat, ein Generikum, verschreiben, um mein Medikamentenbudget nicht zu überschreiten? Sparen muss man da, wo es sinnvoll ist.

Beim Medikament für Frau S. jedenfalls nicht. Ich riskiere damit, dass ich finanziell dafür geradestehen muss. Die Regeln für das Medikamenten- und das zusätzliche Generika-Budget sind einfach skurril. Die Zeitung "Ärztliche Praxis" empfiehlt uns die Beachtung von 13 Regeln, um ein banales Rezept wasserdicht auszuschreiben.

20 Uhr: Gegen acht verlasse ich die Praxis. Auf dem Heimweg schaue ich nochmal bei den L.s vorbei. Meine Position als Hausarzt sehe ich nicht unten im System, sondern als Privileg. Wir können durch unsere besondere Qualifikation eine Behandlung in hohem Maß beeinflussen - und mehr Kosten sparen als alle Kostendämpfungsgesetze zusammen.

© SZ vom 26.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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