Alltag in der Gerichtsmedizin:Der Humor des Präparators

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Sex, Crime und Naturwissenschaft light? Was fasziniert uns an den Geschichten aus der Gerichtsmedizin? Wie sieht der tatsächliche Arbeitsalltag eines Gerichtsmediziners aus? Ein Besuch im Institut für Rechtsmedizin in München.

Franziska Seng

"Was gibt es denn für ein Vergnügen, einen zerfleischten Leichnam zu sehen, vor dem man zurückschaudert; und doch laufen sie da, wo er liegt, zusammen, um ihn zu beklagen und sich zu fürchten".

Als der Philosoph Augustinus in seinen "Bekenntnissen" klagte, der Mensch gebe zu oft der "Neugier seiner Augen" nach und ergötze sich am Verbrechen, gab es noch keine gerichtsmedizinischen Sendungen à la Quincy, CSI oder Post mortem: Er verfasste seine autobiografischen Aufzeichnungen im 5. Jahrhundert.

Was Augustinus damals anprangerte sind menschliche Verhaltensweisen, die sich bis heute nicht geändert haben. Und die sind nicht zuletzt Grund dafür, weshalb Themen aus der Gerichtsmedizin im ohnehin beliebten Krimi-Genre so beliebt sind.

Zunächst einmal ist da die Lust des Menschen, sich zu Gruseln; dazu kommt noch ein voyeuristischer Reflex, gerade dann hinzusehen, wenn es sich um etwas Verbotenes, aus dem Alltäglichen fallendes handelt.

Außerdem bedienen gerichtsmedizinische Geschichten ein allgemeines Interesse an der Naturwissenschaft. So erklärt auch der Münchner Gerichtsmediziner Professor Matthias Graw den Erfolg derartiger Sendungen: "Sie bekommen Sex, Crime und Naturwissenschaft light geboten, das ist die perfekte Kombination. Dazu kann man sich Gruseln, ohne Gefahr."

Auf dem blauen Strich

Der Alltag in der Münchner Gerichtsmedizin besteht jedoch nicht nur aus sensationstauglichem "Sex and Crime": Zwar werden dort nur Fälle untersucht, die von Polizei und Staatsanwaltschaft an die Gerichtsmedizin herangetragen werden; dazu gehören jedoch auch alltägliche Delikte wie Kneipenschlägereien oder Autofahren unter Drogeneinfluss.

So kommt man auch vom Eingang des Pathologischen Instituts in der Frauenlobstraße gleich ins "Ambulatorium": Dort liegt alles Bereit zur Blutabnahme, am Boden ist mit blauem Linoleum der Strich markiert, auf dem die Verdächtigen den "Seiltänzer-Test" zu absolvieren haben: Spätestens bei der "Wendemarke" kommt jeder Berauschte ins Taumeln.

Im Ambulatorium steht außerdem eine robuste Wartebank, die aussieht aus wie eine Parkbank und ziemlich abgewetzt ist: Zu Stoßzeiten, wie während des Oktoberfestes, müssen hier schon mal 50 Verdächtige "verarztet" werden, manchmal gegen deren eigenen Willen. So braucht es mitunter ein halbes Dutzend Streifenbeamten, um anschließend die Blutprobe in Händen halten zu können.

Puzzeln und forschen

Die Arbeit in der Gerichtsmedizin gleicht der Arbeit an einem Mosaik: In verschiedenen Abteilungen und Labors wird gearbeitet, um sich am Schluss ein ganzheitliches Bild machen zu können.

Im dritten Stock etwa sitzt der Sportwissenschaftler Dr. Norbert Praxl und forscht im Bereich der Biomechanik. Hier geht es um die physikalischen Kräfte, die auf den Körper einwirken und Verletzungen verursachen.

"Wie schnell kann ein Mensch zuschlagen?" oder "Welche Kräfte kann ein Körper mobilisieren?" sind ebenfalls Fragen, auf die man mithilfe biomechanischer Analysen Antworten finden möchte.

Dank moderner Computertechnologien können virtuelle Körpermodelle entwickelt werden, die zum Beispiel vorausberechnen, welche Körperstellen bei einem frontalen Verkehrsunfall in Mitleidenschaft gezogen werden.

Besonders für die Fahrzeugindustrie sind derartige Forschungsergebnisse von Interesse: "Im Vergleich zu den komplexen Computermodellen sind die herkömmlichen Crash-Test-Dummies eher primitiv", so Norbert Praxl. "An Dummies darf ja zum Beispiel nichts kaputt gehen. Wir aber wollen wissen, unter welchen Umständen ein Knochen bricht, und wie man ihn schützen kann."

Im 2. Teil: Bei der Arbeit im Obduktionssaal...

Die Knochen, an denen der Präparator Henry Klein arbeitet, sind schon gebrochen. Er ist Experte für die Rekonstruktion von Schädeln. Einem weißen Eimer, der die Aufschrift "Kalotte" sowie eine Identifikationsnummer trägt, entnimmt er mehrere Fragmente einer Schädeldecke. "Zusammenbauen, zusammenbauen, dann Diagnose", lautet Henry Kleins Devise. Das Zusammenbauen ist seine Arbeit, und manchmal gleicht diese Arbeit einem komplizierten Puzzle.

In diesem Fall ist es einfach. Die Fragmente stammen aus dem Bereich der Fontanelle, also der Stelle, an der der Schädel ähnlich einer Naht zusammengewachsen ist. Man kann die Bruchstücke problemlos wieder aneinanderfügen, entlang der Fontanelle greifen die Nahtstellen ineinander wie bei einem Reißverschluss.

Ist der Schädel rekonstruiert, kommt er zu den Biomechanikern. Die können wiederum anhand der Bruchstellen diagnostizieren, welche Kräfte die Schädelfraktur verursacht haben.

Der diskrete Humor des Schädel-Experten

Um den Umständen der gebrochenen Schädeldecke auf den Grund gehen zu können, muss jedoch zunächst die Leiche des vermeintlichen Verbrechensopfers obduziert werden. Von den 2500 Toten, die jährlich von der Gerichtsmedizin untersucht werden, sind etwa 50 Fälle mit verbrecherischem Hintergrund. Vor allem sind es Unfallopfer, deren genaue Todesursachen rekonstruiert werden müssen.

Mittlerweile ist es Mittag geworden, alle zu öffnenden Leichen sind eingetroffen, man geht in den Obduktionssaal. Die Beteiligten versuchen, das Leid, das vielleicht mit den Todesumständen des Menschen einhergeht, auszublenden und machen sich an die Arbeit. Die Todessursache eines älteren Mannes muss geklärt werden, er wurde am Morgen gefunden.

Es herrschen Präzision und Routine, Ärzte, Präparatoren und Medizinstudenten arbeiten zügig, jeder Handgriff sitzt. Mit den anwesenden Kriminalbeamten werden Details zum Fundort des Toten abgesprochen, wenn möglich Informationen über seine näheren Lebensumstände erfragt.

Ganz auszublenden sei das Leid natürlich nicht, etwa wenn es sich um die Leichen von Jugendlichen oder Babys handele, erklärt Präparator Henry Klein zwischendurch. Allerdings benötige man grundsätzlich einen gewissen Humor, um sich vom Arbeitsalltag im Obduktionssaal nicht zermürben zu lassen.

Dann wuselt er wieder zwischen der geöffneten Leiche und dem Schreibtisch mit den Akten herum, notiert etwas, man sieht hinten aus dem Kittel ein Paar Hosenträger mit Piraten-Totenköpfen hervorstechen: der diskrete Humor des Schädel-Experten.

Besonders gefürchtet von Neulingen ist bei der Obduktion das, was man nicht von Fernsehen oder Büchern her kennt: der Geruch, der hier nur "Aroma" heißt. Wenn es die Witterungsverhältnisse erlauben, sind die Fenster des Traktes weit geöffnet.

An das entweichende "Aroma", das beim Unerfahrenen mitunter spontanen Brechreiz auslöst, gewöhne man sich allerdings mit der Zeit, so Professor Graw. Dann kann man sich irgendwann auch voll und ganz auf die Tatsachen konzentrieren, eine unabdingbare Voraussetzung bei der Leichenöffnung.

Die wabernden Eingeweide, Berge an Körperfett, stockendes Blut, entweichende Aromen: Unter der Hand der Mediziner werden sie zu abstrakten Fakten, die mit dem tatsächlichen Leben nichts mehr zu tun haben. Was das wahre Leben ausmachte, ist unsichtbar.

Die Organe werden entnommen und zerteilt, Auffälligkeiten werden festgehalten, alle Organe werden gewogen, die Ergebnisse mit Kreide auf einer Tafel festgehalten. Gehirn 468 Gramm, Herz 508 Gramm. Nüchterne Fakten helfen auch hier: "Bei dieser Leiche ist das Herz ungewöhnlich groß. Vielleicht haben wir hier schon das erste Indiz für die Todesursache", erklärt Professor Graw.

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