Alkoholismus bei Kindern:Einweisung ins Abenteuer Nüchternheit

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Schnaps, Drogen und Abstürze jeglicher Couleur: Wie Ärzte und Psychologen versuchen, Jugendliche in ein Leben ohne den Stoff zu führen. Visite in einer Münchner Entziehungsklinik.

Von Anja Burkel

Nein, nein. Am Alkohol lag es nicht, dass David in jener Nacht in einen U-Bahn-Schacht stieg, aufs Gleis stürzte, sich den Kopf blutig schlug und mit Blaulicht ins Krankenhaus kam.

"Wie viel musst du denn trinken, um was zu spüren?", fragt die Ärztin... (Foto: Foto: SZ/Hess)

Mit den 1,2 Promille, die er noch Stunden später im Körper hatte, kann der Absturz gar nicht verkettet sein. "Den Pegel bin ich ja gewöhnt."

David ist 14. Er hat sich mit Sorgfalt auf schludrig gestylt; mit weitem Sweatshirt, Hängehosen und frisch arrangierter Gelfrisur. Jetzt sitzt er an einem hellen Holztisch vor Tee und Gummibärchen und sagt es dem versammelten Psychiatriepersonal blank ins Gesicht: "Ich halt' nicht viel davon, nüchtern zu sein."

Ohne Alkohol ist alles zu intensiv - selbst das Gute

David (alle Kindernamen sind geändert) spricht verwaschen. Seine Hände wollen hastig zum Nacken, aber wenigstens sind das Zittern, das Schwitzen, die extreme Unruhe verflogen. "Wie viel musst du denn trinken, um was zu spüren?", fragt die Oberärztin.

David schaut aus dem Fenster. "Vier Bier, fünf?" Keine Ahnung. Was denn besser ginge mit Alkohol, will ein Sozialpädagoge wissen. "Ohne ist alles zu intensiv", sagt David, "das Schlechte und das Gute." Selbst das Banale: "Einen Stuhl verrücken, die Schnürsenkel binden, alles."

Visite auf Station 6 der Münchner Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Oberärztin Adelina Mannhart sitzt mit Sozialpädagogen, Stationsärztin, Erzieherin und Psychologen am Küchentisch, wie alle trägt sie statt eines weißen Kittels Jackett nach Façon.

Nacheinander nehmen blasse Schüler am Kopfende des Tisches Platz; ihre Polaroids kleben auf Psychiatrie-Akten. "Wie geht's dir?", fragt die Ärztin. Den 12- bis 17-Jährigen, die aus ganz Oberbayern kommen, geht es schlecht.

Mit acht Zigaretten

Für sie sind nicht mehr Schnaps, Pille und Joint das Abenteuer. Für sie steckt jetzt das Ungewisse im Nüchternsein, zum ersten Mal seit langem, hier in der Klinik. Viele haben schon mit acht an Zigaretten gezogen, mit elf Cannabis geraucht.

Jüngst erschrak man in Bayerns Innenministerium darüber, dass zwei Drittel der Jugendlichen im Freistaat mit 14 den ersten Vollrausch erleben - in diesem Alter kommen Patienten bereits zum Entzug in die Heckscher-Klinik.

Es ist schon ein paar Jahre her, da wurde ein Achtjähriger mit Alkoholvergiftung eingewiesen - drei Mal binnen weniger Monate.

Ungefähr zu dieser Zeit entschied die Klinikleitung: In die Pläne für den Neubau muss, neben Stationen für Entwicklungsprobleme, Depressionen, Essstörungen und ADHS, der Hyperaktivitätsstörung, auch eine geschlossene Suchtabteilung.

Nach Auskunft der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie" gibt es in Deutschland 18 solcher Suchtstationen, mit insgesamt etwa 200 Patienten zwischen zehn und 17 Jahren.

Stiller Horror

Seit drei Jahren steht der luftige Glaskasten nun in München-Giesing. Eine Spielzeugeisenbahn kreist durchs Foyer, und auf Station 6 ist kaum je eins der neun Betten frei geblieben.

Obschon für die Einweisung das Wort von Eltern und Familiengericht zählt, bemüht sich Oberärztin Mannhart "um eine gewisse Freiwilligkeit" der Kinder. Die stellt sich manchmal ein, wenn Schulkarrieren enden, Suizidgedanken erschrecken oder Unfälle passieren.

Nach Davids Unfall reißen seiner Mutter die Nerven. Lange hat sie die Exzesse ihres Kindes in stillem Horror betrachtet - den Alkoholdunst um ihn herum, den Notensturz, die angeblichen Freistunden.

Erst der Unfall, die Gehirnerschütterung, der Polizeieinsatz, der ganze Schrecken jener Nacht geben ihr etwas in die Hand, um den Sohn festzunageln: Wir gehen jetzt in die Klinik. Nur für ein Gespräch. Den Schlafanzug, die Zahnbürste bringt sie später nach.

Jetzt ist David hier: aus dem watteweichen Dauerrausch hart in der Realität gelandet. David hasst es, sich um sieben Uhr aus dem Bett zu schälen, Therapiegespräche zu führen, sich in den Spülplan zu fügen und höchstens sieben Zigaretten am Tag zu rauchen.

Angst vor den "Geheimagenten"

Sein Zimmer teilt er mit Anton, 13, dem "Magic Mushrooms" so starke Wahnvorstellungen einbrachten, dass er mit dem Fernseher sprach und sich von Geheimagenten beschattet fühlte. Jetzt helfen ihm Medikamente, seine Gedanken in Reihe zu denken und nicht mehr im Knäuel.

Das Zimmer der beiden ist durch ein Fenster mit dem Schaltraum der Betreuer verbunden. Um hindurch sehen zu können, müssen die Pädagogen jedoch mit zwei Fingern eine Jalousie zerteilen.

"Die Sucht", sagt Adelina Mannhart und lässt die Metall-Lamellen zurückratschen, "ist das, was wir auf der Oberfläche finden. Dahinter, und das sehen wir bei ausnahmslos allen Kindern hier, stecken schwerste Belastungen, vor denen sie in die Sucht flüchten": Überforderung in der Schule. Sucht der Eltern. Schwere Psychosen. Sexueller Missbrauch.

Es sind Belastungen, die Heranwachsende einfach erdrücken. Oft ist es ein ganzes Problemgestrüpp, das sie umschlingtund das die Fachleute versuchen zu entknoten: mit einem strammen Tagesplan, der die Kinder wie eine Krücke aufrecht halten soll.

Abschied von den Freunden

An seinem ersten Tag auf Station 6 hatte David als Hobbys "Alkohol, Freunde und Drogen" angegeben. In den hellen Räumen der Klinik soll sich das ändern. "Wir versuchen", sagt Mannhart, "bei den Jugendlichen wieder ein Gefühl zu wecken: Ich kann was. Mich interessiert was."

Es gibt eine Turnhalle, einen Kunstsaal, die Kegelbahn, das Fußballfeld, ein Kino. Irgendwo dazwischen muss sich doch etwas finden, auch für David.

Im Ergotherapie-Raum zum Beispiel, wo die Kinder mit Vorliebe süßliche Motive für ihre Basteleien aussuchen; Teddys und Herzchen. Jemand hat einen Stinkefinger aus Pappmaché geformt, ordentlich "Fuck you" draufgemalt und einen kleinen Glitzer-Schmetterling hingeklebt.

Was Kinder wie David am meisten umtreibt, ist die Frage: Wie um alles in der Welt soll es weitergehen? Rauschlos betrachtet sieht Davids Zukunft düster aus: Dauerzwist mit den Eltern, Schulabschluss außer Reichweite, Probleme mit der Polizei.

Bauernhof Freedom

In Gesprächen, die sich "Zukunftswerkstatt" nennen, wird deshalb ein neues Leben skizziert. Kann ein Schulwechsel helfen? Familientherapie? Ein Jahr im "Jugendbauernhof Freedom" zur langfristigen Entwöhnung? In Rollenspielen üben die Kinder Gespräche, vor denen sie sich fürchten; mit den Eltern, den Jugendlichen auf einer neuen Station oder dem Schuldirektor.

Während der Visite, die in der Küche stattfindet, warten die anderen Kinder vor der Tür: Markus, der mit 13 schon die amerikanische Modedroge "Crystal" genommen hat. Maja, die Besuchern knapp erzählt: "Ich bin hier, weil ich was verarbeiten muss."

Bettina, 14, deren Mutter nach einem Suizidversuch selbst behandelt wird und an deren Armen und Beinen kaum eine unversehrte Stelle ist zwischen all den Rasierklingen-Ritzern. Jasmin, die manchmal, wenn ihr das Geld für Wodka fehlte, zum Stachus ging und Männer ansprach.

Es sind komplizierte Kindheitsgeschichten, die in der Schicksals-WG auf Station 6 zusammenkommen. Die Betreuer müssen schon mal eingreifen; wenn ein Streit rabiat wird, wenn der Entzug einen Patienten ausflippen lässt.

Abenteuergeschichten vom Saufgelage

Manchmal klinken sie sich in Gespräche ein, in denen die Kinder ihre Rauscherlebnisse glorifizieren: Abenteuergeschichten aus der Zeit vor der Klinik, als Saufgelage die Tage bestimmten.

Während der Visite ist der einzige Gesprächsstoff vor der Tür: das Geschehen drinnen. Maja kreischt: "Hey Mann, wie peinlich: Ich hab da fast geheult!" Carla starrt mit Leichenbittermiene auf den Boden, denn Svenja, ihre neue beste Freundin, hat gerade erfahren, dass sie die Station verlassen wird. Anton ist nervös. Er möchte am Wochenende raus und malt sich in bunten Farben aus, wie er dann bei McDonald's sitzt.

Ausgang. Das ist das Bonbon, das alle wollen. Aber die luftigen Glastüren sind fest verschlossen. Betreuer und Ärzte tragen Chipkarten am Hosenbund, um die Türen zu öffnen. Steht eine zu lange offen, schießt ein spitzer Ton durch die Station.

Zwei Sorten Fenster gibt es auf Station 6: solche zum Durchschauen, die riesig sind und aus Glas, und solche zum Aufmachen, die aus Holz sind und schmal wie Striche. Nicht mal ein ganz zarter Kinderkörper könnte durch sie hindurchrutschen. Die stationseigene Dachterrasse ist rundum verglast und oben per Gitter verschlossen.

Sorge vor Pulver oder Rasierklingen

Briefe muss David im Beisein eines Betreuers öffnen, für den Fall, dass Pulver im Umschlag klebt oder eine Rasierklinge unter der Marke.

"Über die geschlossene Tür versuchen wir einen drogenfreien Raum zu schaffen, in dem die Jugendlichen mit klarem Kopf über ihre Situation nachdenken können und vielleicht neue Wege für sich entdecken", sagt Adelina Mannhart. Die Geschlossenheit wird dabei stetig gelockert, erst mit kleineren Ausgängen, dann mit Wochenenden zu Hause.

In den ersten Tagen, solange er nicht in die Klinikschule im anderen Glaswürfel darf, wird David im winzigen Klassenzimmer der Station unterrichtet. Vor einer Schultafel zu sitzen - er hat fast vergessen, wie sich das anfühlt. Es ist sein zweites Jahr in der Siebten am Gymnasium, der Notenschnitt mies, das Verhältnis zu den Lehrern zerrüttet.

David kann sich nicht erinnern, wann die Noten überhaupt so ins Rutschen gerieten, aber irgendwie fällt es zusammen mit den ersten Partys und dem Alkohol und den vielen geschwänzten Stunden. Die Noten sacken ab, die tröstenden Mixgetränke und Cannabis-Züge werden mehr, erst abends auf Feiern, dann auch am Nachmittag.

Bier für 32 Cent

"Alles" trinkt David, "einfach alles." Sicher ist das Taschengeld knapp, aber: "Es müssen ja nicht die edelsten Sorten sein." In den unteren Reihen der Supermarktregale stehen schmucklose Bierdosen für 32 Cent, Sangria-Packungen für 1 Euro 50 und billiger Schnaps.

Mit zwölf kann David sich seinen ersten Vollrausch leisten. Ältere Freunde gehen für ihn an die Kasse und leihen ihm Geld, wenn seines ausgegeben ist. "Da hilft man zusammen", sagt David, und es klingt sehr ritterlich.

Was denn ohne Alkohol besser funktioniere, will man bei der Visite noch wissen. Wieder starrt David hinaus in diesen Himmel, unter dem tatsächlich etwas existieren soll, das rauschlos besser ginge.

"Kommunizieren", sagt er schließlich, überrascht, als hätte er diese Antwort auf einem Spickzettel entdeckt, "Kommunizieren mit Leuten wie euch, die gar nichts genommen haben."

© SZ vom 22.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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