Adventskalender für gute Werke (III):Erst der Schmerz, dann die Armut

Lesezeit: 4 min

Schwere Krankheiten zerstören Lebenspläne und stürzen Familien in oft unlösbare Probleme.

Sven Loerzer

Diese Augen! Wortlos schaut Christine L. ihr Gegenüber an. Ihr Blick ist schwer auszuhalten. Christine L., 45, muss sich jeden Wunsch von den Augen ablesen lassen, denn sprechen kann sie nicht mehr. Auf der Bettdecke vor ihr liegt eine Buchstabentafel, die ihr Mann Rudolf zur Hand nimmt, wenn seine Frau ihm etwas mitteilen möchte. Dann beginnt die mühsame Wortbildung, Buchstabe für Buchstabe, wenn Rudolf L. darauf deutet. Schließt seine Frau kurz hintereinander zweimal die Augenlider, bedeutet das: Ja, dieser Buchstabe ist es. Einmal bedeutet nein.

(Foto: N/A)

Christine L. leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer seltenen, bislang nicht heilbaren Erkrankung des Nervensystems. Sie führt nach und nach zum Verlust der Muskelfunktion. Seit einem Jahr kann sich die Mutter zweier Kinder gar nicht mehr bewegen, auch nicht mehr selbst atmen. Neben dem Ehebett steht das Beatmungsgerät. "Gehirn und Gedächtnis funktionieren einwandfrei", erzählt Rudolf L., 52. Seine Worte lassen den tiefen Schmerz erahnen, doch er gestattet sich keine Tränen. Er erzählt von dem Leben vor der Erkrankung: Seine Frau, die als Erzieherin in einem Kindergarten tätig war, habe gern gearbeitet und sei mit den Kleinen immer gut zurecht gekommen. Sport war ihr wichtig, mit Steppen hielt sie sich fit. Jetzt kann sie das Bett nicht mehr verlassen.

Schwäche im Bein

Der Sohn war noch nicht erwachsen, die Tochter gerade sieben Jahre alt, als Christine L. 1999 plötzlich eine seltsame Schwäche im linken Bein feststellte: "Die Kraft war einfach nicht mehr da. Stürze häuften sich." Auch Radfahren konnte Christine L. nicht mehr. Der erste Verdacht auf ALS wird 2001 ausgesprochen, die endgültige Diagnose erhielt Christine L. 2002. "Meine Frau hat geahnt, dass es etwas Schlimmes ist." Die Ärztin habe ihr gesagt: ",Zwei bis drei Jahre haben Sie noch mit ihrer Tochter.' Das war für uns schon schwer zu begreifen", erinnert sich ihr Ehemann. Letztes Jahr zur Weihnachtszeit habe sich ihr Zustand dann dramatisch verschlechtert, "ich dachte, es geht zu Ende". Seitdem muss sie künstlich beatmet werden: "Sie wollte eigentlich nicht an Maschinen angeschlossen werden, aber im letzten Moment hat sie sich anders entschieden."

Damals begann der zermürbende Kampf mit der Krankenkasse: Von der ärztlich verordneten 24-Stunden-Pflege wollte die Krankenkasse nichts wissen, statt dessen drängte sie auf die Unterbringung in einem Pflegeheim. Dann gewährte sie doch vier Stunden Pflege täglich. Nach langem Streit kam es vor Gericht zum Kompromiss: 17,5 Stunden. Von 0.30 Uhr bis sieben Uhr muss sich Rudolf L. allein um seine Frau kümmern, sie umlagern, damit sie sich nicht wundliegt, oder Schleim absaugen - durchschlafen ist kaum drin. Er klagt nicht: "Im Vergleich zu Menschen in anderen Ländern sind wir ganz gut versorgt."

Seinen Büroservice-Kleinbetrieb hat Rudolf L. aufgeben müssen, um sich um seine Frau und die heute zwölfjährige Tochter kümmern zu können; der Sohn studiert. Die Tochter besucht inzwischen eine private Ganztagsschule: "Wir wussten, wie sich die Krankheit entwickelt - unsere Tochter sollte mit der immer schwierigeren Situation nicht allzu sehr belastet werden. Letztes Jahr, als schon der Pfarrer bei meiner Frau war, weil es ihr so schlecht ging, war unsere Tochter ziemlich fertig." Fast 300 Euro kostet der Schulbesuch pro Monat die Eltern - eine große Belastung: Christine L. bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente. Ihr Mann erhält ein geringes Arbeitslosengeld aus früherer Nebentätigkeit, der Sohn bekommt Bafög. Da ist kein Raum für Wünsche. Die Tochter hofft auf einen MP3-Player: "Einen iPod von Apple, wie ihn die Klassenkameradinnen haben, damit liegt sie mir schon ewig in den Ohren. Da führt kein Weg hin", sagt Rudolf L., "die Schule ist vordringlich". Aber er weiß nicht, wie er die Schule weiter bezahlen soll. Die Reserven sind aufgezehrt, das Geld reicht kaum für den Lebensunterhalt.

Rund 16000 Kinder in München wachsen in Familien auf, die am Existenzminimum leben. Zu den Hauptbetroffenen von Armut zählen dabei die Alleinerziehenden. Armut schafft Stress in der Familie, "das wirkt sich auf die Kinder aus", sagt Johanna Kürzinger, Leiterin der Beratungsstelle "allfa_m" (allein erziehende Frauen in München) in Haidhausen. Wenn das Kind beispielsweise etwas verliere oder eine Zahnspange brauche, führe das wegen der daraus entstehenden finanziellen Belastung zu einer familiären Krise. Neben einer Erhöhung der Regelsätze von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II, wie sie Sozialreferent Friedrich Graffe fordert, könne nur eine Gesetzesänderung zur Wiedereinführung der so genannten einmaligen Leistungen die Situation entschärfen. Diese hätten es bis Ende letzten Jahres ermöglicht, flexibel auf Notlagen zu reagieren, etwa wenn ein Kühlschrank kaputt ist oder Nachhilfe benötigt wird. Unter Hartz IV erhalten Familie mit Kindern nicht nur weniger Geld, sondern sollen davon sparen - für Kleidung, Kühlschrank oder Möbel. Eine vierköpfige Familie hat heute rund 80 Euro weniger im Monat als noch vor einem Jahr. "Zu uns kommen oft verzweifelte Mütter, weil sie kein Geld mehr für Essen haben oder die Schulsachen nicht mehr bezahlen können", sagt Kürzinger.

Mit wenig Geld auszukommen hat Sofia A., 39, gelernt. Es ist nicht die einzige Belastung, mit der sie fertig wird: Die allein erziehende Mutter eines neunjährigen Jungen leidet an Multipler Sklerose (MS) und musste sich vor drei Jahren an Brustkrebs operieren lassen. Ihrem Sohn Niki, der sie während der Chemotherapie in der Klinik sah, sagte sie, er solle sich keine Sorgen machen, "die Haare kommen wieder". Sie schickte ihn für vier Monate zu den Großeltern nach Griechenland. "Ich bin ein sehr positiver Mensch. Ich hätte bloß gerne eine andere Krankheit als MS mit diesen Gleichgewichtsstörungen. Eine, die man mir nicht ansieht. Wegen meines komischen, schwankenden Gangs denkt jeder, ich sei betrunken oder nehme Tabletten."

Teure Schmerzbehandlung

Die Akupunkturbehandlung, die sie wegen ihrer Nervenschmerzen im Gesicht begonnen und die ihr Linderung gebracht hatte, musste sie wegen der Kosten abbrechen. Ihr Sohn leidet an einer Hausstauballergie. Dringend müsste sie im Kinderzimmer den Teppich herausreißen und die Matratze erneuern lassen. Doch das Geld, das sie für eine Halbtagstätigkeit neben einer kleinen Teilerwerbsunfähigkeitsrente erhält, reicht dafür nicht. In der Schule nimmt Niki an einem Computerkurs teil. Sofia A. hofft, vielleicht günstig einen gebrauchten Computer zu finden, seine Freunde hätten alle schon längst einen.

"Sind wir arm?", hat Niki vor ein paar Tagen seine Mutter gefragt. Und obwohl sie am Existenzminimum lebt, antwortet sie: "Ich würde mich nicht als arm bezeichnen. Mein Sohn ist gut in der Schule, ich habe Arbeit - es könnte doch alles sehr viel schlimmer sein."

© SZ vom 10. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: