Adventskalender für gute Werke:"Ich muss überleben, irgendwie"

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30000 Münchner sind gleichzeitig alt und krank - viele von ihnen kämpfen um ihre Existenz

Von Sven Loerzer

(SZ vom 20.12.03) — Das Datum, an dem sein Leben eine so verhängnisvolle Wende nehmen sollte, weiß er noch ganz genau: 20. Mai 1997. Seitdem hat Ljuban T. 36 Operationen überstanden, weitere werden wohl noch folgen. An jenem Tag im Mai war der heute 57 Jahre alte Mann dabei, seine Wohnung zu streichen.

20 Minuten vor zwölf Uhr: "Ich stand auf der zweiten Stufe der Leiter und habe gerade die Decke gemalt, da drohte der Kübel umzustürzen. Ich griff mit beiden Händen danach, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf die linke Seite."

Das war der Beginn einer langen Leidensgeschichte. T., ein bescheidener, höflich sich zurückhaltender Mann, erzählt sie so sachlich, dass nur seine feuchten Augen seine Schmerzen erkennen lassen: Die Hüfte ist zertrümmert.

Gescheiterte Versuche

Er erhält ein künstliches Gelenk eingesetzt und kann schon mit einer Krücke laufen, als plötzlich eine Entzündung auftritt. Das Gelenk muss wieder entfernt werden. Weitere Versuche, ihm ein Gelenk einzusetzen, scheitern an immer wieder auftretenden Infektionen.

Nach acht Monaten wird er aus dem Krankenhaus entlassen, aber nur für kurze Zeit. "Ich bekam eine Entzündung nach der anderen." Weil sie nicht abheilen, ist er heute noch immer ohne Hüftgelenk. Allein vier Mal ist er in diesem Jahr operiert worden, zuletzt im Mai. Die lange Wunde ist immer noch nicht verheilt.

Schmal geworden

Täglich kommt ein Pflegedienst zum Verbinden. "Es ist nur noch ein Zentimeter offen. Wenn die Wunde zu ist, dann kommt eine neue Hüfte rein", sagt Ljuban T., "das hat mir der Professor versprochen". Bis dahin aber kann der schmal gewordene Mann mit seinen beiden Krücken das Haus kaum verlassen. Anfang November ist er auch noch über die Türschwelle der Toilette gestürzt, als das Telefon klingelte: "Gott sei Dank bin ich mit dem Kopf nicht gegen den Türstock gestürzt. Da wäre ich wohl tot gewesen. So habe ich mich nur an der Schulter verletzt und mir die Hand gebrochen."

Die Freunde sind weg

Die Wände seines kleinen Appartements in einem städtischen Notquartier sind fast kahl. Nur das Bild eines gut aussehenden jungen Mannes sticht ins Auge: "Das war einmal ich", sagt T. und denkt an früher. 1968 kam er mit einem Bautrupp aus Maribor im damaligen Jugoslawien nach München, um zu arbeiten. Vier Jahre später heiratete er und bekam eine Tochter.

Im Jahr 1983 verlässt ihn seine Frau und geht mit der Tochter zurück nach Jugoslawien. Die Ehe ist geschieden, der Kontakt in seine ehemalige Heimat schon lang abgerissen. Aber auch hier ist er ziemlich allein, weil er wegen seiner schweren Gehbehinderung die Wohnung kaum noch verlassen kann. "Früher hatte ich viele Freunde, als ich noch gesund war und gearbeitet habe. Jetzt habe ich nur noch einen einzigen Freund, er geht für mich einkaufen."

Saubere Wohnung

Eine Cousine von auswärts kommt alle zwei Wochen zu T. , um die Wohnung sauber zu halten: "Obwohl ich so krank bin, möchte ich Ordnung haben und saubere Fenster", entschuldigt er sich. Und dann ist da noch "Mutti", wie er seine Bezirkssozialarbeiterin von der Stadt nennt, weil sie ihm hilft, wenn er zum Beispiel mit Anträgen, Bescheiden und Formularen nicht klarkommt.

Die Erwerbsunfähigkeitsrente reicht kaum zum Leben, für eine Betriebsrente fehlen ihm gerade drei Monate. "Pech gehabt", hieß es in der Personalabteilung der Firma, die ihn zuletzt als Gabelstaplerfahrer beschäftigte. Die Zuzahlungen für Klinikaufenthalte strapazieren seinen Geldbeutel schon heute. Die Gesundheitsreform zum 1. Januar kommt ihn noch teurer: "Es ist ein großes Problem", sagt er. Seine Rente sei in diesem Jahr um sechs Euro, die Miete aber um 34 Euro gestiegen. Sein einziger Wunsch: "Ich muss überleben, irgendwie."

Nie einfach

Alt, krank und auf Hilfe angewiesen, das sind rund 30.000 Menschen in München. Zum Beispiel Margarete B., 81, die immer für andere da war. Ihr fällt es schwer, nun selbst Hilfe zu benötigen. Einfach hat sie es nie gehabt. Im Krieg hat sie von Kartoffelschalen gelebt. Von ihrem Mann trennte sie sich nach kurzer Ehe, als plötzlich eine Frau vor der Tür stand, die sich als dessen Verlobte vorstellte. Als Kindermädchen hat sie "mal da, mal dort Geld verdient", die Arbeitgeber haben sie nicht versichert.

Zuletzt arbeitete sie als Verkäuferin, hatte zehn Jahre einen Lebensgefährten. Bevor er sie verließ und in Griechenland abtauchte, räumte er alle ihre Ersparnisse, 65000 Mark, ab. Als Rentnerin geht Margarete B. dann putzen, weil sie so wenig Geld hat. Sie betreut Tageskinder, die "ihre Omi" lieben und noch heute besuchen. Ihr Leben heute? "Es ist ganz trist", sagt Frau B., die Tränen laufen.

Die Amputation

"Es gibt nichts Schlimmeres, als auf andere angewiesen zu sein." Eine missglückte Bypassoperation vor einem Jahr: Bei der fünften Nachoperation wird ihr das Bein oberhalb des Knies amputiert. "Es war zum Verzweifeln, als ich wach wurde und nur noch ein Bein hatte", erzählt Margarete B., "ich habe mich von der Krankenschwester ans Fenster fahren lassen und wollte runterspringen. Aber es war Parterre."

Mit der schlecht angepassten Prothese konnte sie nicht laufen, deshalb sitzt sie jetzt im Rollstuhl. Ihr kleines Appartement befindet sich zwar im Erdgeschoss. Aber dahin führen ein paar Treppenstufen, die sie ohne fremde Hilfe kaum überwinden kann. Die kommt aus der Nachbarschaft: Zwei Familien kümmern sich um die warmherzige alte Frau, fahren sie spazieren oder bringen sie zum Seniorenclub.

Schlimme Phantomschmerzen

Zweimal pro Woche kommt ein Zivildienstleistender, um mit ihr einzukaufen und die Wohnung sauber zu halten. Erst vor kurzem, als sie mit dem Rollstuhl beim Einkaufen war, ist ihr das Portemonnaie gestohlen worden - aus einem Netz, das hinten am Rollstuhl hing.

"Es waren über 100 Euro drin, weil ich gerade bei der Bank gewesen war. Das ist für mich viel Geld." Von ihrem Traum, einmal noch eine Reise zu unternehmen "und in der Sonne zu liegen ohne Phantomschmerzen", traut sie sich nur zögernd zu sprechen.

Im nächsten Jahr wird sie noch weniger Geld haben als bisher, wo sie noch von Zuzahlungen befreit ist. Mit der Gesundheitsreform zum 1. Januar ist das vorbei. Praxisgebühr, Medikamente, kein Kassenzuschuss zur Brille: "Das wird hart. Da wünscht man sich nur noch den Tod."

Viele Verluste

Der Tod hat das Leben von Fritz M., 64, geprägt. In fünf Jahren starben fünf ihm sehr nahe stehende Menschen, darunter seine Frau im Alter von 37 Jahren an Krebs. Den Sohn hatte zwei Jahre zuvor ein Kies-Laster überrollt. Der 17-Jährige war sofort tot. Über den Verlust ist Fritz M. selbst nach 20 Jahren nicht hinweg.

Der verzweifelte M. flüchtete damals in die Anonymität der Großstadt, wo er sich mit Jobs über Wasser hielt und zeitweise in Notquartieren lebte. Sein letztes Arbeitszeugnis von 2001 lobt seinen Fleiß und sein Pflichtbewusstsein als Haustechniker außerordentlich: "Nichts war ihm zu viel, nichts zu schwer oder zu gering", stets sei er bereit gewesen, "Arbeitsausfälle von Kollegen durch zusätzliche Dienste aufzufangen".

Operationen

Arbeiten kann er nicht mehr: Vor zwei Jahren hat sich M. wegen Prostatakrebs operieren lassen müssen und einen künstlichen Ausgang bekommen. Nun sorgt Fritz M. liebevoll für einen verspielten Mischlings-Hund und eine Katze. Weil die Rente nicht reicht, erhält M. Grundsicherung. Damit bleibt ihm nicht mehr zum Leben als einem Sozialhilfeempfänger.

Zum Einkaufen geht er eine Dreiviertelstunde zu Fuß, jeweils hin und zurück, um das Geld für den Bus zu sparen. Sein größter Wunsch ist ein Schrebergarten. Die Zusage hat er schon in der Tasche. Aber wie soll er die rund 400 Euro Ablöse aufbringen? Die kleine Jahrespacht dagegen hofft er beim Essen einsparen zu können: "Wir verhungern schon nicht."

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