Abi oder Quali?:Der Klassenkampf

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Drei Monate lang hat ein Autor des SZ-Magazins eine ganz normale vierte Klasse an einer Münchner Grundschule begleitet. Und erlebt, wie der Notendruck Schüler, Eltern und Lehrer verrückt macht.

Rainer Stadler

Eigentlich wollte Ulrike Bossenmaier ihrer Klasse nach sechs Wochen Sommerferien nur den Einstieg erleichtern. Anstatt gleich mit dem Stoff loszupauken, sollten die 23 Schüler der 4e einfach mal aufschreiben, was sie sich so alles vorgenommen hatten für dieses Jahr.

(Foto: Foto: Stephanie Füssenich)

Frau Bossenmaier staunte nicht schlecht, als sie die 23 Antworten las. Im Grunde gab es nur drei Antworten: "bessere Noten", "dass ich es aufs Gymnasium schaffe" und "dass ich es aufs Ginasium schaffe". Da wusste die Lehrerin der Grundschule Berg am Laim, dass dies kein unbeschwertes Schuljahr werden würde.

Sieben Tage später entlud sich zum ersten Mal der ganze Druck, der auf den Kindern lastete: Miriam, sonst eine der Besten, kassierte eine glatte Sechs im Diktat und brach in Tränen aus. Dominik klagte der Lehrerin: "Was glauben Sie, was zu Hause los ist, wenn ich damit ankomme!"

Ratlos blickte er auf das Blatt vor ihm, auf dem eine Drei stand. Die 35-Jährige kannte die Schüler, sie war bereits im Jahr zuvor die Klassenlehrerin gewesen. Aber solche Szenen hatte sie nie erlebt. Beim Elternabend der 4e Ende der zweiten Schulwoche bat sie die besorgten Mütter und Väter, das Thema Übertritt bei den Kindern vorerst nicht mehr anzusprechen.

Die Grundschule Berg am Laim liegt an einer viel befahrenen Ausfallstraße im Münchner Osten. Im zugehörigen Stadtbezirk wohnen hauptsächlich Arbeiter und einfache Angestellte, jeder Vierte ist Ausländer.

Für den Schulrektor Michael Hoderlein hat dieses Umfeld durchaus angenehme Seiten: Er muss sich - anders als die Kollegen in den gehobenen Vierteln wie Bogenhausen oder Harlaching - nicht mit Rechtsanwälten oder Chefärzten herumschlagen, die schon bei der Einschulung wissen, dass die Schullaufbahn ihres Nachwuchses unweigerlich mit dem Abitur enden wird.

Natürlich haben auch die Eltern in Berg am Laim Ambitionen. Sie lassen sich am ehesten auf die Formel bringen: nicht unbedingt Abi, auf keinen Fall Hauptschule.

Schulrektor Hoderlein versteht das: "Wie sollen die Eltern es auch anders sehen, wenn die Wirtschaft keine Hauptschüler einstellt?" An der Grundschule Berg am Laim besteht also ausreichend Potenzial für Konflikte mit den Eltern, weshalb die Schule vorgebaut hat: Zum Beispiel schreiben alle Viertklässler seit Kurzem dieselben Arbeiten, die anschließend nach demselben Notenschlüssel bewertet werden. So können die Eltern der 4e nicht behaupten, die Kinder der 4a oder 4c hätten es leichter, und umgekehrt.

Mitte März 2007, noch sieben Wochen bis zum Übertrittszeugnis: Für das Gymnasium gilt als geeignet, wer in den Fächern Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht einen Notendurchschnitt von mindestens 2,33 erreicht. Für die Realschule genügt ein Schnitt von 2,66.

Das Übertrittszeugnis wird nicht einfach so ausgestellt, es muss beantragt werden. Wer darauf verzichtet, landet automatisch in der Hauptschule. In der 4e stellen alle einen Antrag, zur Verwunderung von Frau Bossenmaier. Vor wenigen Wochen hat sie die Halbjahreszeugnisse verteilt, und sie kann sich noch gut erinnern, dass manche Schüler mit Ach und Krach auf einen Schnitt von 4,0 kamen.

Die Münchner Abendzeitung veröffentlicht in diesen Tagen zwei eng bedruckte Seiten mit den Adressen hiesiger Realschulen und Gymnasien. Im großen "AZ-Service zum Schulwechsel" können sich die Eltern der Viertklässler informieren, welche Einrichtung politische Seminare anbietet, Kommunikationstraining als Wahlfach oder Spanisch als vierte Fremdsprache.

In der Bild-Zeitung erscheint eine vierteilige Serie: "Tatort Hauptschule: Die Ex-Rektorin der berüchtigten Berliner Rütli-Schule packt aus".Unter den Schülern der Klasse 4e scheint die anfängliche Nervosität verflogen zu sein. Miriam hat sich vom Schock nach dem ersten Diktat erholt und gleich in der nächsten Probe eine Zwei geschrieben.

Nun steht sie in Deutsch "auf zwei Komma noch was" und in Mathe auf einer Eins. Auch Dominik nimmt klar Kurs aufs Gymnasium.

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