Abgehängt:Ein betagter VW-Bus ist Sieger aller Klassen

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Testfahrt zum Münchner Landratsamt: Im Berufsverkehr hängt das Auto Tram, S-Bahn, Omnibus und Fahrrad spielend ab

Das Landratsamt des Landkreises München liegt auf exterritorialem Gebiet - am Mariahilfplatz in der Stadt München. Wer dort etwas zu erledigen hat, muss sich aus Unterschleißheim, Haar, Aying, Gräfelfing durch den morgendlichen Berufsverkehr quälen. Vier Kollegen machten die Probe aufs Exempel - mit Auto, Fahrrad, Bus und Tram, S- und U-Bahn. Sie starteten an einem Montagmorgen um 8.28 Uhr am Hohenbrunner Weg in Taufkirchen.

Stressfrei im Auto

Soll ich mir noch einen Kaffee holen? Oder wäre das arrogant? Ich entscheide mich, besser kein Risiko einzugehen. Wäre doch zu blöd, am Landratsamt von einem feixenden Radfahrer empfangen zu werden, nur weil im Schnellrestaurant die Kaffeemaschine gestreikt hat.

Also ab auf die A995 in Richtung Giesing. Um 8.38 Uhr passiere ich das Stadtschild. Und schon stecke ich im McGraw-Graben im Stau. Mist. Als ich am Grünwalder Stadion rechts abbiege, habe ich endlich wieder freie Fahrt. Die Stimmung steigt. Aus den Autolautsprechern untermalt Lemmy Kilmisters sanfte Stimme den Schlussspurt. Ein paar Minuten später sind die Türme der Mariahilf-Kirche zu sehen. Um 8.50 Uhr ist das Parkticket gekauft. Erster. Stressfaktor? Nicht hoch, trotz des Berufsverkehrs. Das scheint an meinem Auto zu liegen.

Offenbar spricht mein betagtes Gefährt mehr das Mitleid der Männer in den edlen Karossen an als ihren sportlichen Ehrgeiz. Ein Anruf von einem der Konkurrenten kürzt meine Wartezeit ab. Der Radfahrer ist dran, mein schärfster Widersacher. Ich hole ihn ab. Als Sieger kann man sich schließlich Großmut leisten. thom

Radler in Nöten

Mit Schwung vom Hohenbrunner Weg in Richtung Unterhaching. An der Ampel vom Mann mit dem gelben VW-Bus geschnupft. Er Autobahn, ich Unterhachinger Landluft. Er Gas, ich Natur. Er Stau, und bei mir kommt der Kreislauf in Schwung. Ortsausfahrt Unterhaching, leichter Schweiß auf der Stirn.

Es ist 8.45 Uhr. Plötzlich: Die linke Tretkurbel beginnt sich zu lösen. Geist und Körper im Ungleichgewicht. Kein runder Tritt mehr, hilfloses Klopfen mit der Ferse auf die Kurbel. Noch an der Autobahnzufahrt vorbei, das Ortsschild München ist am Horizont erkennbar. Hektisches Treten. München! Stau auf der Tegernseer Landstraße. Triumphal vorbei oder doch die kleine Lincolnstraße? Sieg der Bescheidenheit, Lincolnstraße. 8.53 Uhr und Obergiesing ist in Sicht.

Dann fällt die Kurbel ab. Absteigen. Hilflose Schraubversuche mit bloßen Fingern. Es ist ein buchstäbliches Niederknien vor der Blechlawine im Rücken. Ich muss aufgeben. Kein Schraubenschlüssel, nichts. Nur Autos hinter mir, ein hämisches Grinsen der Kühlerhauben. An der Bushaltestelle wirbt die Lottogesellschaft mit ,,Oans, zwoa, gwonna!''. Dass Werbung so unmenschlich sein kann. Ein Anruf beim Mann mit dem gelben VW-Bus. Er wird mich abholen. Um 8.53 Uhr war er längst am Ziel. jmm

Sightseeing mit der Tram

Keine drei Minuten sind es vom Hohenbrunner Weg zum Kriegerdenkmal an der Münchner Straße. Dort hält er, der 224er, wenn er denn kommt. Er kommt, fahrplangerecht, nach 15 Minuten. 2,3 Kilometer, zwei Haltestellen und zehn Minuten später ist Unterhaching erreicht. Bis zur Abfahrt des 220ers Richtung Giesing habe ich zwölf Minuten Zeit, die 24 Stationen auswendig zu lernen. Oder die Plakate im Wartehäuschen zu studieren, die für Wiesnnächte in der Schrannenhalle, eine betagte Boy-Group und die Erotikmesse werben.

24 Minuten dauert die Reise, wobei Reise genau das richtige Wort ist, denn die Fahrt mit Bus und Straßenbahn gleicht einer Sightseeing-Tour durch unbekanntes Gelände, durch fremde Straßen, vorbei an Spielplätzen, Laubwald, Kirchen, Firmen. Überall gibt es etwas zu gucken. Da vergeht die Zeit wie im Flug. Etwa ab Fasanenpark, Bussardstraße, also relativ weit weg von der Schlagader S-Bahn, wird's trotz kleiner Umleitung voll.

Gegenüber der Bushaltestelle in Giesing hält die Tram 27 Richtung Petuelring. Sie rauscht nach einer Minute heran, schnittig, elegant. Rasante fünf Minuten (bei fünf Haltestellen) später landet sie am Mariahilfplatz. Vorteil der Tram: Schienen kommen auf den Punkt, machen keine Umwege, Staus gibt es auch keine. Fazit: Die schnellste bin ich mit fast 70 Minuten Anreisedauer nicht, trotzdem werde ich es wieder tun. Ein entspannter Start in den Tag für zwei Abschnitte auf der Streifenkarte ohne den geringsten Hauch von Stress. bae

Zu viele Stationen

Beruhigend zu wissen, dass die arme Kollegin 15 Minuten auf ihren 224er Bus warten muss, während in dem Moment mein 222er eintrifft und sicher gleich auf geradem Weg zum S-Bahnhof Taufkirchen rasen wird.

Irgendein Witzbold beim MVV hat den Fahrer aber offenbar angewiesen, den Fahrgästen alle Straßen, Gassen und Kinderspielplätze Taufkirchens zu zeigen. Darf man einen Busfahrer mit vorgehaltenem Bleistift dazu zwingen, diesen Blödsinn zu lassen und schnurstracks zur Endhaltestelle zu rasen? Nach zehn Minuten am S-Bahnhof eingetroffen, fast zeitgleich mit dem Zug nach München. Angenehm der Gedanke, dass die Bus-und Trambahn-Kollegin immer noch auf ihren 224er wartet.

Regenwolken ziehen auf, könnte ungemütlich werden für den Radfahrer-Kollegen, mein Mitleid soll ihn begleiten. Ankunft in Giesing um 8.52 Uhr, katapultartig zur U-Bahn geschossen. Der U-Bahn-Fahrer lässt auch keine einzige Station aus bis zum Kolumbusplatz. Schlussspurt im Tierpark-Bus bis zum Landratsamt. Wird ein schönes Siegerfoto, wenn der Fotograf eintrifft.

Aber was ist das? Er ist schon da mit seinem PS-Schlitten. Muss über rote Ampeln gerast sein. Werde mal mit ihm reden über seinen übertriebenen Ehrgeiz. Arme hochreißen fürs Siegerfoto. Dann der Schock. Der Gelbe-Kastenwagen-Kollege soll angeblich schon da gewesen und wieder gefahren sein, um den jämmerlich gescheiterten Radlfahrer-Kollegen aufzulesen. Lüge, alles nur Lüge. Was kostet eigentlich eine Rechtsberatung im Landratsamt?

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