345 Euro im Monat reichen in München nicht:"Man sieht den Menschen die Armut wieder an"

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"Die Leute schaffen das nicht": Sozialreferent Friedrich Graffe fordert die Erhöhung von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe auf 410 Euro.

Sven Loerzer

Immer mehr Menschen, die auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II angewiesen sind, stehen vor gravierenden existenziellen Problemen. Das Geld reicht nicht, um eine defekte Waschmaschine zu ersetzen, den dringend benötigten Zahnersatz oder die Strom-Jahresrechnung zu bezahlen.

Das Geld reicht nicht mehr zum Leben. (Foto: Foto: AP)

Spenden aus dem SZ-Adventskalender müssen häufiger als jemals zuvor dazu herhalten, Menschen aus prekärer Lage zu erlösen. Die SZ sprach mit Sozialreferent Friedrich Graffe über die neue Situation.

SZ: Worauf führen Sie es zurück, dass die Probleme zugenommen haben?

Graffe: Es war der erklärte Wille des Gesetzgebers, beim Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe die Leistungen zu pauschalieren. Das heißt, alle Einzelleistungen, die auf besondere Sachverhalte Rücksicht nehmen, zu streichen und durch einen einheitlichen Regelsatz in Höhe von 345 Euro monatlich abzugelten.

Die Waschmaschine, die früher bei Bedarf eigens bezahlt wurde, ist nun aus diesem Regelsatz zu bezahlen. Dazu soll monatlich Geld zurückgelegt werden, genauso wie für Zahnersatz. Aus unseren Erfahrungen nach fast zwei Jahren kann ich nur sagen: Da hat sich der Gesetzgeber richtig verrechnet. Das schaffen die Leute in den meisten Fällen nicht.

SZ: Sie selbst haben von Anfang an gesagt, dass 345 Euro zumindest in München den Lebensbedarf nicht decken.

Graffe: Ich habe dem Stadtrat im letzten Jahr eine Beschlussvorlage vorgelegt, in der 20 Prozent mehr, also 410 Euro gefordert werden. Der Stadtrat und auch der OB stehen hinter dieser Forderung.

SZ: Durch die jüngste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist der Eindruck entstanden, 345 Euro reichen aus.

Graffe: So hat es das Bundessozialgericht aber nicht gesagt. Die Verfassung lässt dem Gesetzgeber einen Spielraum innerhalb der absoluten Grenzen, die von der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot bestimmt werden. Diese Grenzen sind nach Ansicht des Gerichts nicht unterschritten.

Aber selbstverständlich ist die Politik damit nicht außer Obligo, denn der Gesetzgeber muss eine friedliche Gesellschaft im Blick haben. Wenn die Spaltung zwischen arm und reich in der Gesellschaft noch weiter wächst, dann kann sich der Gesetzgeber dem nicht mehr entziehen, auch wenn er nicht so nah dran ist an den Problemen der Menschen, wie eine Kommune.

SZ: Bei vielen Familien reicht das Geld trotz Arbeit kaum zum Leben.

Graffe: Wir haben durch die permanenten Lohnsenkungen in vielen Branchen ein wachsendes Potenzial an Bedürftigen erhalten. Im Niedriglohnsektor sind auch voll erwerbstätige Haushalte bedürftig.

Eine Studie der Universität Frankfurt beziffert ihren Anteil schon auf sieben Prozent. Wir werden uns entscheiden müssen, ob wir das wirklich wollen - dann nähern wir uns amerikanischen Verhältnissen, wo viele Menschen nur mit mehreren Jobs überleben.

SZ: Also doch Kombilohn einführen?

Graffe: Für mich gibt es nur eine Lösung: Den gesetzlichen Mindestlohn. Den Kombilohn haben wir ja praktisch schon, wenn das Arbeitslosengeld II ergänzend wegen eines zu geringen Arbeitseinkommens bezahlt wird.

SZ: Wie lässt sich die Situation der Betroffenen verbessern?

Graffe: Wir haben keinerlei Rechtsgrundlage für zusätzliche finanzielle Leistungen. Der SZ-Adventskalender hilft uns, die schlimmste Not zu lindern. Auch die städtischen Stiftungen - inzwischen sind es bald 150 - leisten einen wesentlichen Beitrag.

Wir und die freien Träger haben eine ganze Reihe von familienunterstützenden Maßnahmen, wie zum Beispiel der Verein für Fraueninteressen mit einer hauswirtschaftlichen Beratung, um mit knapper Kasse einigermaßen über die Runden zu kommen.

Eine wichtige Maßnahme geht meist unter: Sowohl in den Krippen als auch in den Kindertagesstätten ist der Platz für Kinder aus armen Familien gebührenfrei. Statt eine oder zwei Millionen Euro für eine Weihnachtsbeihilfe auszugeben, wollen wir das Geld in weitere strukturelle Hilfen für Familien und Kinder stecken.

SZ: Zum Beispiel?

Graffe: Die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung wird jetzt sozialpädagogische Lernhilfen anbieten. Dabei werden die Kinder nach der Schule aufgefangen, sie bekommen etwas zu essen, sie können ihre Hausaufgaben machen und mit Gleichaltrigen spielen. Außerdem müssen wir die Schuldnerberatung stärken: Eigentlich müsste ja der Freistaat die Insolvenzberatung finanzieren.

Derzeit gibt die Stadt München doppelt so viel aus für diesen Bereich wie der Freistaat für ganz Bayern. Arbeitslos und auch noch Schulden im Rücken, da kann keiner mehr richtig atmen. Wir brauchen viele Netze auf der kommunalen Ebene, um das Gefühl von Ausgestoßensein, das durch längere Armut entsteht, aufzufangen.

Armutsfamilien sind in Gefahr künftige Armutsgenerationen hervorzubringen, oder, um es brutaler auszudrücken: Schlechte Bildung ist vererblich in Deutschland.

SZ: Das führt zur Unterschicht ...

Graffe: Mir gefällt der Begriff nicht, er erweckt den Eindruck, da ist etwas schicksalhaftes, wogegen man nichts mehr tun kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass Armut in Deutschland ein bekämpfbares Risiko ist - wenn wir wollen.

Armut beeinflusst nicht allein die materielle Versorgung, sondern die Bildungsmöglichkeiten, den Gesundheitszustand und die gesellschaftliche Teilhabe. An allen drei Bereichen kann man ansetzen.

Wenn wir 8000 Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt untergebracht haben in diesem Jahr, dann zeigt das, dass es in München immer noch einen Weg aus dem Dilemma gibt.

SZ: Alten und kranken Menschen, die nicht mehr arbeiten können, hilft das nichts.

Graffe: Viele glauben ja gar nicht, dass es solche Fälle gibt, wie sie der Adventskalender beschreibt. Aber es gibt diese grausamen Geschichten. Erst vor kurzem hatten wir den Fall einer Frau, die auf Grund einer schweren Nahrungsmittelallergie nur noch wenige, schwer zu beschaffende und teuere Lebensmittel essen konnte.

Von 345 Euro ist das nicht zu finanzieren. Wir brauchen für gewisse Tragödien des Alltags eine Öffnung der pauschalierten Leistungen.

SZ: Also wieder mehr Ermessensspielraum, um Einzelfallentscheidungen treffen zu können.

Graffe: Ja, unbedingt, auch wenn dem die Gesetzeslage entgegensteht. Der Gesetzgeber wollte mit der Pauschale mehr Selbstverantwortung ins System bringen. Aber das funktioniert nicht, im Gegenteil: Man sieht wieder Armut, etwa an den Zähnen. In Berlin übrigens noch sehr viel deutlicher als hier bei uns.

SZ: Da hilft dann nur noch Armutsbekämpfung wie in Amerika.

Graffe: Ich will keine amerikanischen Verhältnisse, wo die Leute dankbar dafür sein müssen, dass sie eine Suppe bekommen, ihnen irgendjemand noch einen Pullover gibt, aber keine Ansprüche haben dürfen an die Gesellschaft auf eine Existenzsicherung.

Als Ergänzung sind Spenden sicher gut, aber es ist der wesentliche Fortschritt des Sozialstaats, dass er Ansprüche statt Almosen gibt. Das ist ein so hohes Gut, dass wir es um keinen Preis opfern sollten.

© SZ vom 18.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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