Zensurstreit beim Schlagerfestival Sanremo:Bühne der Nation

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Der Auftritt von Raphael Gualazzi an diesem Dienstag beim 70. Festival di Sanremo. (Foto: Daniele Venturelli/Getty Images)

Das Sanremo-Schlagerfestival ist mehr als nur eine Show, die dem Fernsehen beste Quoten beschert. Es ist der Moment im Jahr, in dem Italiens Befindlichkeit sich zu Komödie, Tragödie und Posse verdichtet.

Von Stefania Carini

Die Zeit Anfang Februar versetzt die Italiener in einen fiebrigen Zustand, jedes Jahr wieder seit 1951. Dann findet das Musik- und Fernsehereignis des Landes schlechthin statt: das Festival von Sanremo, in dem neue, bisher unveröffentlichte Lieder miteinander konkurrieren. Vom 4. bis 8. Februar wird der Wettbewerb diesmal im Fernsehen übertragen und sorgt für viel Emotion beim Publikum. Und gerade auch: für Ärger.

Es geht um Zensur, Rassismus, Sexismus. Aber um all den Ärger zu verstehen, muss man sich die Tradition und Bedeutung des Festivals ansehen.

In diesem Jahr findet es zum 70. Mal statt. Und ist weit mehr als nur eine Show. Es gibt einen tiefen, manchmal auch grellen Einblick in die italienische Gesellschaft, und es bringt Szenen hervor, die sich eingebrannt haben ins kollektive Gedächtnis von Generationen.

Gefeiert wird im titelgebenden Sanremo, in Ligurien, am Meer. Turin ist nicht weit entfernt, einer der Hauptstandorte der Rai, des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes. Nach Mailand ist auch nicht weit, dort haben die Musikverlage ihre Sitze. Für die Wahl als Austragungsort sprechen auch das angenehme Klima und die kulinarischen Klassiker der ligurischen Küste: Foccaccia und Pesto. In seinen Anfängen war der Liederwettbewerb ein Event fürs Radio. 1955 entschied die Rai, es im Fernsehen zu übertragen - was alles veränderte.

Von Beppe Grillo bis David Bowie und Michael Gorbatschow waren alle schon in Ligurien dabei

Das Festival wurde größer und bekannter, in den Nachbarländern lief es als Eurovisionssendung. 1956 entstand nach seinem Vorbild der Grand Prix, der Vorläufer des heutigen Eurovision Song Contest.

Fünf Abende in Folge wird ausgestrahlt. 2019 sahen jeden Abend zehn bis zwölf Millionen Menschen zu, zwischen 46 und 53 Prozent Marktanteil erreicht die Sendung, beim Finale waren es sogar 56,5 Prozent. In diesem Jahr waren es am ersten Abend mehr als zehn Millionen Zuschauer, der Marktanteil lag bei 52 Prozent. Das sind Fernsehquoten, die es eigentlich gar nicht mehr gibt.

Fast alle italienischen Sänger sind irgendwann auf dieser Bühne aufgetreten. Domenico Modugno mit Nel blu dipinto di blu (1958), besser bekannt unter dem Titel Volare, und Eros Ramazzotti mit Adesso tu (1986) triumphieren zuerst in Sanremo und dann in der ganzen Welt. Im Jahr 1983 erreicht Toto Cutugno mit L'italiano nur den fünften Platz, hat danach aber in ganz Europa Erfolg. In der Geschichte des Festivals steckt alles drin: Komödie, Tragödie, Posse. Der Wettbewerb prägt auch die italienische Musikgeschichte. Im Guten, dank seiner Beliebtheit, wie im Schlechten - weil er ewig einen konservativen Geschmack verfestigt.

Aber es ist vor allem eine Weltbühne Italiens. Hier treten Komiker wie Beppe Grillo oder Roberto Benigni auf, Filmstars wie Robert de Niro, die Models Eva Herzigova und Laetitia Casta und Popstars von Louis Armstrong über Madonna und Ute Lemper bis David Bowie. Sogar Michail Gorbatschow war da.

Seit 1955 ist das Festival eng mit der Entwicklung des Fernsehens verbunden. Natürlich geht es um die Lieder, aber in gewisser Weise tritt jede Ausgabe des Festivals auch gegen die vorherige an. Für jeden Moderator, der hier antritt, ist es ein bedeutender Moment in seiner Karriere. Mike Bongiorno und Pippo Baudo haben dieses Festival im Fernsehen präsentiert, Raffaella Carrà und Michelle Hunziker. Und jeder von ihnen hat zumindest versucht, hier Festivalgeschichte zu schreiben. Klar, die Veranstaltung steht unter Beobachtung des ganzen Landes. Und sie ruft Debatten hervor.

Was man da auf der Bühne sagen oder singen darf, darüber wird debattiert, polemisiert, manchmal liefert Sanremo auch nur einen Vorwand dafür. So spiegelt das Festival wieder, was gerade die wichtigsten Themen in Italien sind. Seit einigen Jahren - vor einem immer stärker politisierten und extremisierten Hintergrund - ist das Festival von Sanremo die ideale Theaterkulisse, vor der Politiker sich medial inszenieren.

Dieses Jahr zum Beispiel wurde um die Teilnahme der Journalistin Rula Jebreal gestritten. Die Italienerin hat palästinensische Wurzeln und wird dem politisch linken Spektrum zugeordnet. Für Anhänger rechter Parteien ist sie ein Gegner. Zwischenzeitlich hieß es vor dem Festival schon, die Direktion der Rai habe sich gegen Jebreals Auftritt ausgesprochen. Jebreal sprach von "Zensur" - und trat nun doch auf. Unterdessen stellte der diesjährige Moderator Amadeus seinen Gast Francesca Sofia Novello, die Freundin des Motorradrennfahrers Valentino Rossi, vor als eine Frau, die in der Lage sei "einem großen Mann beizustehen und dabei einen Schritt zurückzutreten". Der Moderator wird jetzt des Sexismus beschuldigt. Und ein paar Tage später polemisierte Matteo Salvini, der Chef der rechtskonservativen Lega, gegen den Rapper Junior Cally - wegen eines älteren Songs, der ebenfalls sexistische Untertöne enthalten soll. Es ist also irgendwie wie immer in Sanremo.

Hier inszenieren sich Politiker, hier wird gestritten, polemisiert und ja, auch schön gesungen

Man kennt das. Unter Silvio Berlusconi wurde dem Festival immer wieder vorgeworfen, zu "links" zu sein. 2014 hielt Beppe Grillo, Komiker und Gründer der populistischen Cinque Stelle-Bewegung, unmittelbar vor Festivalbeginn eine Kundgebung vor dem Ariston Theater ab, in dem der Wettbewerb inzwischen stattfindet. Vergangenes Jahr sprach der damalige Innenminister Salvini sich gegen den Sieg des Sängers Mahmood aus, einem Italiener mit ägyptischem Vater. Luigi Di Maio, damals Arbeitsminister und Chef der Cinque Stelle, behauptete wiederum, den ersten Platz habe Mahmood nur wegen einer Jury aus elitären Journalisten und Showbusiness-Leuten bekommen, die sich vom Geschmack des "Volkes" entfernt hätten.

Historiker würden das Festival von Sanremo wohl ein Denkmal der Kultur- und Sozialgeschichte Italiens nennen. Der Journalist und Historiker Eddy Anselmi, der die wohl umfangreichste Publikation über das Event geschrieben hat, nennt es das Heiligtum für Italiens Götter der Gegenwart.

Irgendwie sind die Entwicklung des Festivals und die des Landes verwoben wie Bild und Spiegelbild. In einem der vergangenen Jahre war der Slogan des Festivals: "Weil Sanremo Sanremo ist".

Ja, Sanremo ist Sanremo - einzigartig, einfach und vielfältig, scheinbar banal und wahrhaft komplex. Eine typisch italienische Erfindung.

Aus dem Italienischen von Elisa Britzelmeier.

© SZ vom 06.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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